Drei Lehren zu europäischer Souveränität
Zum Thema Souveränität sind viele Grundsatzfragen noch ungeklärt. Mit einigen davon haben wir uns im Rahmen eines neuen Hintergrundpapiers zu europäischer Souveränität befasst. Dieser Geldbrief fasst die drei wichtigsten Erkenntnisse zusammen.
Seit dem Brexit-Referendum, der Wahl Donald Trumps und Emmanuel Macrons erster Sorbonne Rede 2017 wird Europas Souveränität intensiv diskutiert. Auch wir haben letztes Jahr erste Gedanken dazu aufgeschrieben.
Bei der Vertiefung des Themas wird klar, dass viele Grundsatzfragen ungeklärt sind. Unseres Wissens gibt es noch keine Definition von Souveränität, die in der Debatte allgemein anerkannt ist. Ebenfalls ist strittig, ob ökonomische Souveränität von politischer getrennt werden kann und, falls ja, entlang welcher Schnittlinien.
Um hier Fortschritte zu erzielen, haben wir ein Hintergrundpapier geschrieben, das wir heute veröffentlichen. Dieser Geldbrief fasst die drei wichtigsten Ergebnisse zusammen. Am kommenden Montag, 17-18 Uhr, diskutiere ich das Papier mit Dr. Thu Nguyen, stellvertretende Direktorin des Jacques Delors Centre, in einem Webinar, zu dem Sie herzlich eingeladen sind. Die Anmeldung dafür ist hier möglich.
Die Maastricht-EU: Ein historisch gewachsener Souveränitätsblocker
Das erste Ergebnis des Papiers betrifft die jüngere Geschichte der Europäischen Union. Betrachtet man diese durch die Linse der Souveränität, so erscheint sie in einem neuen Licht. Insbesondere wird die Maastricht-EU als ein politisches Projekt erkennbar, das auf die Überwindung nationalstaatlicher Souveränität abzielte, nicht auf die Stärkung der europäischen Souveränität.
Die Maastricht-EU entstand durch die Einheitliche Europäische Akte (1986), die Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1997), Nizza (2001) und Lissabon (2007) sowie durch die Einführung des Euro (1999–2002). Mit der EU-Osterweiterung 2004–7 stellte sie außerdem den Rahmen dar, innerhalb dessen den Staaten Mittel- und Osteuropas der Übergang vom Staatssozialismus zu Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und liberaler Demokratie gelang.
Die Maastricht-EU war eng verknüpft mit der Geschichtsphilosophie der 1990er-Jahre. Die Sicherung von Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft in Europa sollte zu breit verteiltem Wohlstand führen. Dieser Wohlstand würde zu einer Befriedung historischer Konflikte führen. Und nachdem sich dieses Muster in Europa bewährt, könnte es global exportiert werden, so die Hypothese. Immanuel Kants Ewiger Frieden und Francis Fukuyamas Ende der Geschichte lieferten das philosophische Fundament für diese Erzählung.
Politisches Handeln im eigentlichen Sinne war in diesem Rahmen weder erwünscht noch als notwendig erachtet. Das Konzept von Souveränität weckte Erinnerungen an staatliche Willkür und internationale Konflikte. Durch die Europäisierung von Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft und durch die Unterwerfung der Mitgliedsstaaten unter ein gemeinsames Regelwerk, sollte nationalstaatliche Souveränität eingehegt werden, ohne einen neuen Souverän auf der Unions-Ebene zu konstituieren.
Im Kontext der 1990er Jahre konnte diese Maastricht-EU als ein zukunftsweisender Versuch verstanden werden, die nationalstaatlich getriebene Gewalt des 20. Jahrhunderts hinter sich zu lassen und eine neue Form von Zusammenleben zu organisieren. Doch in der Zwischenzeit hat sich Europa und die Welt so grundlegend verändert, dass die angestrebte postsouveräne Ordnung passé ist.
Zusammendenken was zusammengehört
Eine zweite Erkenntnis des Papiers ist, dass Souveränität als Ganzes analysiert werden muss. Der Souveränitätsbegriff hat unterschiedliche Facetten, darunter zum Beispiel die Bestimmung der legitimen Letztentscheidenden bzw. Letztentscheidungsinstitutionen (des Souveräns) im Inneren;[1] das Recht, frei von äußerer Fremdbestimmung über die Daseinsform, die innere Ordnung, die politische Ausrichtung und die Beziehungen zu anderen politischen Einheiten zu entscheiden (völkerrechtliche Souveränität); und die Schaffung gewisser materieller Grundlagen, um es zu ermöglichen, dieses Recht aus eigener Kraft zu wahren (digitale, technologische, wirtschaftliche etc. Souveränität).
Der Versuch, einen dieser drei Aspekte von den anderen beiden zu trennen (zum Beispiel, indem digitale oder technologische Souveränität separat betrachtet werden, oder indem außenpolitische Handlungsfähigkeit getrennt von inneren Verfassungsfragen besprochen wird), ist nicht zielführend. Ohne äußere Souveränität ist die innere hinfällig. Ohne materielle Grundlage ist die äußere totes Recht. Und solange unklar ist, wie die Souveränität im Inneren geregelt ist, sprich welche Institutionen für welche Bereiche Letztentscheidungskompetenzen haben, kann auch eine starke materielle Grundlage keine Abschreckungswirkung entfalten und Fremdbestimmung abwehren. Wer also von europäischer Souveränität sprechen möchte, darf weder über Geld noch über institutionelle Reformen schweigen.
Die finanziellen Aspekte dieser Verknüpfung werden sichtbar in der Frühgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Dort ermöglichte erst eine Klärung der inneren Souveränität, insbesondere in Bezug auf Steuer- und Fiskalkompetenzen, eine Wiedererlangung der finanziellen Handlungsfähigkeit. Dies wiederum ermöglichte es den jungen USA, ihre äußeren Interessen zu wahren.
Zwar sind die USA des späten 18. Jahrhunderts nicht das Europa des 21. Jahrhunderts. Doch in den Bereichen Energie, Verteidigung, Industriepolitik und Finanzen könnte auch hier und heute eine Klärung der inneren Souveränität die Basis der äußeren stärken. Mehr Details dazu sowie zur finanziellen Frühgeschichte der USA finden sich im Papier.
Ehrliche Kuhhandel braucht das Land
Zuletzt ist offensichtlich, dass eine Neugestaltung der inneren Souveränität in Europa heute sehr herausfordernd wäre. Weder existiert eine hinreichend Öffentlichkeit. Noch bestehen Mehrheiten in den Mitgliedsstaaten für mehr europäische Staatlichkeit.
Um dennoch mehr Souveränität für Europa zu erreichen, halten wir ehrliche Kuhhandel für vielversprechend: das Verschieben, Teilen oder Abgeben von Kompetenzen aus langfristig und umfassend verstandenem Eigeninteresse. Dabei wäre es wichtig, sich auf jene Kuhhandel zu fokussieren, die positive Pfadabhängigkeiten schaffen und neben Vorteilen für die einzelnen Mitgliedsstaaten auch institutionelle Reformen beinhalten, die am Ende die gesamteuropäische Souveränität stärken.
Dies ist in Regierungs- und Expertenkreisen bekannt. Doch wenn Vorschläge für Kuhhandel von anderen mitgliedsstaatlichen Regierungen kommen, entsteht schnell der Verdacht, dass die Komplexitäten, die bei Feldern wie Energie, Finanzen, Industriepolitik und Sicherheit immer im Raum stehen, zur Deckung von Eigeninteressen genutzt werden könnten. Dasselbe gilt für die Europäische Kommission. Diese steht oft im Verdacht, auch dort Macht an sich ziehen zu wollen, wo es keinen Mehrwert schaffen würde.
Die dritte Lektion des Papiers ist daher, dass es hilfreich sein könnte, wenn außenstehende Akteure aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft einzelne Elemente eines möglichen Kuhhandels ausleuchten. So könnte ein analytisches Fundament geschaffen werden, auf dessen Grundlage konstruktiv verhandelt werden könnte, wie man die Maastricht-EU am besten zu einer Souveränitätsunion weiterentwickelt. Denn dies ist die Aufgabe, vor der wir in den kommenden Jahren stehen.
Unsere Leseempfehlungen:
- Einen guten und zugänglichen Einstieg in die unterschiedlichen Facetten von Souveränität bietet Dieter Grimms FAZ-Gastbeitrag „Welche Souveränität?“. Er differenziert insbesondere zwischen juristischer und politischer Souveränität und verdeutlicht die hohen Hürden, die eine Übertragung der juristischen Souveränität von den Mitgliedsstaaten auf die EU überwinden müssten.
- Wie im Geldbrief und im Hintergrundpapier argumentiert: Wer von europäischer Souveränität sprechen möchte, darf über institutionelle Reformen nicht schweigen. Zu Letzterem empfehlen wir die Lektüre des Sailing on High Seas-Bericht zu institutionellen Reformmöglichkeiten. Er wurde 2023 vom Auswärtigen Amt und dem französischen Außenministerium angestoßen und von einer zwölfköpfigen Gruppe unabhängiger Expertinnen und Experten, darunter Dr. Thu Nguyen, erarbeitet.
- Wer tiefer in die verschiedenen Facetten europäischer Souveränität einsteigen möchte, dem sei das kürzlich erschienene Handbuch Europäische Souveränität Es vereint 13 Fachaufsätze zu Themen wie innerer, äußerer, administrativer oder wirtschaftlicher Souveränität.
Fußnoten
[1] In einem modernen Rechtsstaat liegt die Souveränität beim Volk, bleibt dort aber latent. Ausgeübt werden verschiedene Letztentscheidungskompetenzen von unterschiedlichen Institutionen, darunter oft die Regierung, das Parlament, das Verfassungsgericht und die Zentralbank.
Medien- und Veranstaltungsbericht 11.07.24
- Medienerwähnungen und Auftritte
- Am 11.06.24 wurde Max in El Economista zur wirtschaftlichen Lage in Italien zitiert.
- Am 17.06.24 ist in Deutschland & Europa, einer Zeitschrift der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, ein Artikel „Was macht eine gute Fiskalpolitik aus?“ von Leo und Philippa erschienen.
- Am 18.06.24 berichtete die Zeit über die Verhandlungen zum Bundeshaushalt und hat dazu die vom Dezernat berechneten Bedarfe aufgegriffen.
- Am 24.06.24 berichtete das Handelsblatt über unseren Vorschlag, die Buchungspraxis bei Abschlägen für Anleihen zu ändern.
- Am 26.06.24 wurde Felix im Tagesspiegel Background zur aktuellen Haushaltsdebatte zitiert.
- Am 05.07.24 hat Leo der taz ein Interview über seine Kritik an Lars Felds Schuldenbremse-Studie gegeben.
- Am 09.07.24 wurde Florian bei euractiv zur Einigung beim Bundeshaushalt zitiert.
- Veranstaltungen
- Am 19.06.24 hat Florian eine Ringvorlesung bei Plurale Ökonomik Köln zu “Schuldenbremse, Haushaltsstreit und wie Finanzpolitik auch anders funktionieren könnte” gehalten.
- Am 20.06.24 hat Florian beim Transformationskongress 2024 der Hans-Böckler-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung bei einem Workshop zur Finanzierung der Transformation gesprochen.
- Am 22.06.24 hat Felix einen Workshop zur Klimapolitik beim Zukunftsforum der Stipendiat:innen der Friedrich-Naumann-Stiftung gegeben.
- Am 02.07.24 war Max auf einem Panel zu Demokratie und Fiskalpolitik im Rahmen der European Democracy Conference der Heinrich-Böll-Stiftung.
Der Geldbrief ist unser Newsletter zu aktuellen Fragen der Wirtschafts- Fiskal- und Geldpolitik. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns. Zusendung an max.krahe[at]dezernatzukunft.org
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