Demokratie und Schuldenbremse – Bericht unserer Fachtagung
Max Krahé, Axel Kölschbach, Florian Schuster, Philippa Sigl-Glöckner
Sie beschäftigt uns schon länger: die Schuldenbremse. Doch sie ist nicht nur eine makroökonomische Fiskalregel, sondern auch gelebte Verwaltungspraxis für viele Beamte im Bundesfinanzministerium, Kanzleramt und in den Ländern, sowie ein Artikel unserer Verfassung, der von Jurist:innen und Richter:innen interpretiert werden muss. Um unseren ökonomischen Blick mit diesen beiden Perspektiven – Verwaltungspraxis und Rechtswissenschaft – zu erweitern, haben wir vorletzten Freitag eine interdisziplinäre Fachtagung zur Schuldenbremse im Futurium Berlin veranstaltet. Dieser Geldbrief berichtet.
Die Schuldenbremse ist weder für uns noch in der öffentlichen Diskussion ein neues Thema. Trotzdem — oder gerade deswegen — braucht es weitere Debatten über sie. Denn Finanzen berühren das gesamte staatliche Handeln, vom Klimaschutz über den Arbeitsmarkt bis hin zum ÖPNV in den Kommunen. Bremst die Schuldenbremse nur das jährliche Defizit oder auch die demokratische Debatte? Wie gut funktioniert ihre praktische Umsetzung? Und wie könnte sie reformiert werden?
Diese Fragen können nicht aus einer rein makroökonomischen Perspektive beantwortet werden. Gelebte Verwaltungspraxis und rechtliche Rahmenbedingungen sind dafür ebenso entscheidend. Deswegen haben wir eine interdisziplinäre Fachtagung mit Ökonom:innen, Jurist:innen und Vertreter:innen der Bundes- und Landesverwaltungen organisiert. Wir wollten wissen: Wie gehen Demokratie, Grundgesetz und Schuldenbremse zusammen — in Theorie und in Praxis?
Die Konferenz war teils öffentlich, teils geschlossen. Die Ergebnisse des geschlossenen Teils — vier Panels mit Expert:innen aus VWL, Rechtswissenschaft und Verwaltung — schildern wir unten in allgemeiner Form. Diese Gespräche fanden nach Chatham House Rules statt, um allen Teilnehmenden das freie Reden zu ermöglichen.
Zusätzlich luden wir zu einem öffentlichen Gespräch ein, bei dem Werner Gatzer, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Prof. Dr. Stefan Korioth, Verfassungsrechtler an der LMU München, und unsere Direktorin Philippa unter der Moderation von Max zu Schuldenbremse und Demokratie diskutierten. Fast 140 Menschen sind unserer Einladung gefolgt — viele von ihnen Studierende und Young Professionals. Die Schuldenbremse ist also nicht nur ein Thema für Nerds und Beamte, sie treibt auch die junge Generation um.
Fragezeichen in der Belastungsprobe
Die Teilnehmenden waren sich einig: Corona, der Krieg und die Energiepreisschocks haben nicht nur unsere Volkswirtschaft vor eine Belastungsprobe gestellt, sondern auch die Schuldenbremse. Von 2009, als sie im Grundgesetz verankert wurde, bis 2019 hatten niedrige Zinsen und moderates Wachstum für Platz im Haushalt gesorgt. Unter der Doktrin der „schwarzen Null“ beschränkten sich Bundestag und Bundesregierung sogar freiwillig darauf, noch kleinere Defizite anzustreben als grundgesetzlich möglich gewesen wäre. Heute hingegen sind die Bedarfe groß — Klima, Krieg, Investitionen —, die Spielräume klein. Der Druck auf die Schuldenbremse wächst.
In dieser Belastungsprobe, so war sich eine Mehrheit der Teilnehmenden ebenfalls einig, kommen Fragezeichen auf. Dies wurde insbesondere aus der juristischen Perspektive deutlich: Viele wesentliche Begriffe und Elemente der Schuldenbremse stellten sich bei näherer Analyse als rechtlich nicht eindeutig bestimmt heraus. Ebenso blieb unklar, ob die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Ausgestaltung makroökonomisch optimal ist. Erste Gründe, warum dies nicht der Fall sein könnte, hatten wir zuvor in unserer eigenen Forschung identifiziert; weitere wurden zum Beispiel im Zusammenhang mit Sondervermögen und zeitlich versetzten Abflüssen aus ihnen erkenntlich. Zu guter Letzt wurde insbesondere in der öffentlichen Diskussion hinterfragt, ob Finanzpolitik unter der Schuldenbremse ausreichend demokratisch legitimiert ist.
Vertrauen vs. Selbstbeschränkung
Die Konfliktlinie, die sich dabei auftat, war die folgende: Wie viel Vertrauen hat man in den demokratischen Haushaltsprozess – und wie viel Selbstbeschränkung erachtet man als nötig?
Befürworter der Schuldenbremse argumentierten: Weil die Politik im Zweifel immer einen Anreiz habe, Wahlkampfgeschenke über Schulden zu finanzieren, produziere der Haushaltsprozess eine systematisch übermäßige Ausgabenkultur. Nur mithilfe einer Schuldenregel, die am besten im Grundgesetz stehe und damit besonders glaubwürdig sei, ließe sie sich einhegen.
Dem hielten andere entgegen, dass die Politik für ihre Entscheidungen geradestehen solle und das Parlament als Vertreter des Souveräns sich nicht die Kontrolle über den Haushalt aus der Hand nehmen lassen dürfe. Dies sei für die Legitimität und Rechenschaft der demokratischen Politik entscheidend.
Trotz dieser Differenzen betonten beide Seiten, dass es im Kern um das Vertrauen in Politik und öffentliche Finanzen gehe. Auch wenn der beste Weg dahin strittig blieb, so konnte man sich auf dieses Ziel einigen.
v. l. n. r. Philippa, Werner Gatzer, Prof. Dr. Stefan Korioth
Finanzielle Transaktionen und die Klimakrise als Notlage
Nun zum geschlossenen Teil: Im ersten Panel diskutierten die Teilnehmenden die Rolle finanzieller Transaktionen und der Klimakrise. Unter finanziellen Transaktionen werden Transaktionen verstanden, die bilanziell neutral sind: Sie stellen zwar Einnahmen oder Ausgaben des Staates dar, reduzieren bzw. erhöhen aber gleichzeitig das staatliche Vermögen um die gleiche Summe.[1] Diese Art von Transaktionen sind von der Schuldenbremse ausgenommen, damit z. B. Haushaltslöcher nicht über Privatisierungen gefüllt werden.
Doch was genau fällt unter den Begriff „finanzielle Transaktion“? Damit fängt das Problem schon an: Das deutsche und das europäische Recht definieren sie unterschiedlich. Auch die Anreize, die diese Regelung schafft, sind problematisch: Zum Beispiel gelten Aktieninvestitionen als finanzielle Transaktion und können damit durch Kredite finanziert werden, ohne den knappen Defizitrahmen, den die Schuldenbremse erlaubt, in Anspruch zu nehmen. Anders ist es bei Investitionen in Schulgebäude. Diese zählen nicht als finanzielle Transaktionen. Falls sie durch Kredite finanziert werden sollen, müssen diese in den knappen Rahmen der Schuldenbremse passen. Damit gibt es Anreize, Finanzinvestitionen über realwirtschaftliche Investitionen zu stellen, was sowohl ökonomisch als auch normativ problematisch sein kann.
Die zweite Frage dieses Panels war, ob der Klimanotstand die Kriterien der Notlagenklausel erfüllt. Tut er das, könnte die Schuldenbremse für Klimainvestitionen ausgesetzt werden. Nach Meinung einiger juristischer Expert:innen ließe sich die Notlagenklausel durchaus auf den Klimanotstand anwenden — aber nur für durch den Klimawandel ausgelöste Schäden, beispielsweise von Naturkatastrophen, nicht präventiv für Klimainvestitionen.
Aus ökonomischer Sicht erscheint das skurril. Es muss erst zur Katastrophe kommen, dann lässt die Schuldenbremse die notwendigen Ausgaben zu. Die Frage, wie vorbeugende Klimainvestitionen im Einklang mit der Schuldenbremse kreditfinanziert werden könnten, bleibt unbeantwortet.
Die ewig komplizierte Konjunkturkomponente
Im zweiten Panel ging es um die Methodik der Konjunkturbereinigung, die die zulässige Kreditaufnahme unter der Schuldenbremse in guten Zeiten begrenzen und in schlechten Zeiten ausweiten soll. Das soll eine kontrazyklische und makroökonomisch konjunkturgerechte Finanzpolitik ermöglichen.
Die Konjunkturbereinigung wird umgesetzt, indem ein prinzipiell konjunkturunabhängiges Produktionspotenzial geschätzt wird, das dann mit der jeweils aktuellen Konjunktur verglichen wird. Das aktuelle Verfahren zur Bestimmung des Produktionspotenzials bringt jedoch einige Schwierigkeiten mit sich: Es ist prozyklisch; es zementiert Ungleichgewichte im Arbeitsmarkt, weil es z. B. die niedrigere Erwerbsbeteiligung von Frauen aus der Vergangenheit in die Zukunft fortschreibt; und seiner Methodik mangelt es an hinreichender demokratischer Legitimation, um die grundsätzlich strittige Frage des makroökonomisch optimalen Defizits zu beantworten.
Die Diskutierenden stimmten weitestgehend darüber überein, dass es kaum möglich sei, eine Konjunkturkomponente, die diese Probleme überwindet, per Formel zu bestimmen. Insbesondere die Frage der Legitimation, die eigentlich eine jährliche Festlegung der Verschuldungsgrenze durch das Parlament erfordern würde, ließe sich mit einem quantitativen Verfahren kaum lösen.
Sondervermögen: Rechtlich koscher, makroökonomisch fragwürdig
Ähnlich umstritten ist der Umgang der Schuldenbremse mit Sondervermögen. Während die Schuldenbremse ausgesetzt war, wurden mehrere von ihnen für Klimaschutz-, Energiepreisbremsen– und Rüstungsausgaben angelegt bzw. weiter befüllt.
Diese spezielle Widmung von Geldern ist rechtlich unproblematisch, solange die Sondervermögen einem klar abgegrenzten Zweck dienen. Doch sie kann makroökonomisch zweifelhafte Nebeneffekte haben: Die schuldenbremsenrelevante Buchung findet im Jahr der Befüllung des Sondervermögens statt, nicht in dem Jahr, in dem die Gelder tatsächlich verausgabt werden. Gerade wenn in Ausnahmejahren, in denen eine Suspension der Schuldenbremse eine unbegrenzte Kreditaufnahme ermöglicht, Sondervermögen mit hohen Volumina befüllt werden, können in den folgenden Jahren deutlich höhere Defizite realisiert werden, als die makroökonomische Logik der Schuldenbremse für erstrebenswert hält.
Gleichzeitig wurde in den Diskussionen klar: Sondervermögen sind nichts Neues. Es gibt sie in der Bundesrepublik bereits seit den 50er-Jahren. Sogar das Preußen des frühen 19. Jahrhunderts machte regen Gebrauch von ihnen. Ihre Prominenz — da waren sich die Teilnehmenden einig — verdanken sie eher der Belastungsprobe, vor die die besonderen Ausgabebedarfe unserer Tage die Schuldenbremse heute stellen.
Reformbedarf ja — aber welche Reform?
Am späten Nachmittag kam die geschlossene Runde nochmal zusammen, um über Reformideen zu sprechen. Hier wurde eine gewisse Dringlichkeit festgestellt, da die Finanzierungsbedarfe in der nächsten Legislaturperiode groß sein werden. Es müssen wichtige Investitionen in Transformation und Sicherheit getätigt werden; die Babyboomer gehen in Rente; und die ersten Coronaschulden müssen getilgt werden.
In dieser Diskussion gab es weniger Einigkeit als bei den Problembeschreibungen des Vormittags. Neben unseren bekannten Vorschlägen zur Neujustierung der Konjunkturkomponente ging es zum Beispiel um Möglichkeiten, Investitionen teilweise aus einer reformierten Schuldenbremse auszunehmen, die Einführung eines zentralen Investitionsfonds, oder eine Kopplung des Verschuldungsspielraums an die Zinssteuerquote.
Deutlich wurde, dass die Details einer möglichen Reform gerade aus Sicht der Finanzmärkte weniger bedeutsam sind als die Frage, ob sie eine vertrauenswürdige, planbare und den Herausforderungen angemessene Finanzpolitik ermöglicht. Denn Finanzmarktakteure, so wurde uns aus der Praxis suggeriert, denken weniger wie Paragraphenreiter und eher wie Feuilletonistinnen: Nicht der präzise Wortlaut oder die genauen Formeln der Fiskalregel zählen, sondern die Gestalt der Fiskalpolitik insgesamt.
Auf das Gesamtkunstwerk kommt es an
Letztlich wurde durch die Tagung klar: Eine zukunftsgerichtete Reform der Schuldenbremse gelingt nur in Zusammenarbeit von Ökonomie, Rechtswissenschaften und Verwaltungspraxis. Da es im Kern um Vertrauen geht, kommt es auf das Gesamtkunstwerk an, nicht auf die zugespitzte Optimierung einzelner volkswirtschaftlicher, rechtlicher, oder verwaltungstechnischer Aspekte.
Eine Fortführung dieses interdisziplinären Austauschs ist umso wichtiger ob der Belastungsprobe, deren Anfang wir gerade erst erleben. Denn die Dekarbonisierung unserer Wirtschaft, der demographische Wandel, die geopolitische Zeitenwende und die Sicherung unseres Wohlstandes werden in den kommenden Jahren eine neue Finanzpolitik erfordern, die diesen Herausforderungen angemessen ist. Wir freuen uns darauf, die Gespräche, die auf dieser Tagung begonnen wurde, fortzuführen und zu vertiefen. Vielen Dank an alle, die da waren!
Unsere Leseempfehlungen:
- Wer sich mit der juristischen Problematik der Schuldenbremse und ihrer Konjunkturkomponente eingehender beschäftigen will, dem oder der sei das von uns in Auftrag gegebene Gutachten von Prof. Dr. Stefan Korioth und Dr. Michael Müller empfohlen. Es findet sich hier.
- Die Hintergründe der Schuldenbremse und ihre Entstehungsgeschichte hat Anna Mayr kürzlich erst prägnant und pointiert in der ZEIT
- Wem die Schuldenbremse nicht genug ist, sollte mit der „Schwarzen Null“ weitermachen. Lukas Haffert hat schon 2016 mit seinem Buch eine historische Analyse der deutschen Haushaltsüberschüsse vorgelegt, die wegweisend für die Zukunft deutscher Fiskalpolitik ist.
Fußnote
[1] Wer zum Beispiel für 100 Euro Aktien kauft, hat zwar 100 Euro weniger Geld auf dem Konto, aber 100 Euro mehr Vermögen. Die Transaktion war bilanziell neutral: Man ist (zumindest kurzfristig) weder reicher noch ärmer geworden.
Medien- und Veranstaltungsbericht 26.10.2023
- Medienerwähnungen und Auftritte
- Am 6.10. erschien von Vera, Levi und Janek bei Politik&Ökonomie ein Beitrag zur politischen Bedeutung von Kipppunkten.
- Am 23.10. wurde im Polisphere Newsletter erwähnt, dass Felix Heilmann bei uns als Policy Analyst angefangen hat.
- Am 25.10. hat Philippa in einem Zeit Campus Beitrag ihre Vision für ein zukünftiges Wirtschaftssystem beschrieben.
- Veranstaltungen
- Am 22. und 23.11. wird die zweite Konferenz unseres European Macro Policy Netzwerks (EMPN) in Wien stattfinden. Der erste Tag wird den Mitgliedern des EMPN vorbehalten sein. Der zweite Tag ist öffentlich zugänglich und steht thematisch unter dem Motto „Fiscal policy for the 21st century: meeting economic, social and climate challenges“. Sprechen werden u.a. Jakob von Weizsäcker, Jeromin Zettelmeyer, Philippa Sigl-Glöckner und Helene Schuberth. Zur Anmeldung vor Ort geht es hier, die Konferenz wird außerdem per Livestream auf unserem Youtube-Kanal übertragen.
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