Image
10. June 2021
 / 

Max Krahé

 / 
 / 
Geldbrief

Was ist Zukunftsfähigkeit?

11 min Lesezeit
[wp_dark_mode_switch style="3"]

Max Krahé, Pola Schneemelcher

Es ist acht Tage her, da hat Wolfgang Schäuble in der Financial Times für eine Rückkehr zu ausgeglichenen Haushalten geworben, um wachsende Schuldenberge und drohende Inflation abzuwenden und so Europas Zukunft zu sichern. Rasche Antworten und Reaktionen verdeutlichen, dass das dem Artikel zugrundeliegende Verständnis zukunftsfähiger Finanzen von der Geschichte überholt wurde. Die Sparpolitik der 2010er Jahre ist vor allem international an ihren eigenen Maßstäben gemessen gescheitert: Die durchschnittliche Schuldenquote in Europa ist durch Haushaltskonsolidierung angestiegen, nicht zurückgegangen (Fatás and Summers 2018).[1]

Doch wenn die Maßstäbe der 1990er – das Jahrzehnt, in dem der Fokus auf Schuldenquoten und Haushaltskonsolidierung vorherrschend wurde – nicht mehr als Maßstab für Zukunftsfähigkeit funktionieren, woran kann die Qualität und Nachhaltigkeit von Fiskalpolitik heutzutage festgemacht werden? Gerade jetzt, da Parteien und PolitikerInnen sich für die nächste Bundestagswahl warmlaufen, ist es wichtig, klare Kriterien zu haben, um finanzpolitische Vorschläge einordnen zu können. In diesem Dezernatsbrief erklären wir erst, warum die alten Maßstäbe überholt sind, und legen dann neue Standards vor, mit denen die Zukunftsfähigkeit der Wahlprogramme beurteilt werden könnte.

Doppelte Überholung: Schuldenquote und Sparen

Die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen, so hieß es lange, sei an der Schuldenquote zu messen. Ist diese niedrig, insbesondere unter 60%, kann die Zukunft kommen. Ist sie hoch, muss die Finanzpolitik sparen, um damit die Schuldenquote zu senken und die Zukunftsfähigkeit zurückzuerlangen. Doch beide Komponenten sind heute überholt.

Zunächst die Schuldenquote: Eine niedrige Schuldenquote korrespondiert heute nicht mehr mit der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. Positiv gesehen ist eine niedrige Schuldenquote nicht mehr notwendig, um Finanzen zukunftsfähig zu machen. Der langfristige Rückgang des Zinsniveaus hat die tatsächlichen Kosten der Verschuldung gesenkt. Wie Olivier Blanchard 2019 zeigte, stabilisiert sich die Schuldenquote automatisch, also auch ohne die Erwirtschaftung ausgeglichener Haushalte, solange die Zinsen auf Staatsanleihen unterhalb des Wachstums der Volkswirtschaft liegen.[2]

Umgekehrt ist eine niedrige Schuldenquote heute nicht mehr hinreichend, um die zukünftige Tragfähigkeit des Haushalts sicherzustellen. Langfristig ist dies in Verbindung mit dem Klimawandel erkennbar: Eine niedrige Schuldenquote wendet diesen nicht ab; wenn er jedoch nicht abgewendet oder drastisch gebremst wird, entstehen zahlreiche Langfristrisiken für Wirtschaft und Haushalt.

Kurz- und mittelfristig verdeutlicht ein Blick in die Verzahnung von Arbeitsmarkt und Haushalt, dass eine niedrige Schuldenquote alleine nicht mehr hinreichend ist: trotz oberflächlich guter Arbeitslosenzahlen verdienen heute knapp 22% der abhängig Beschäftigten nur einen Niedriglohn. Knapp 6 Mio. Menschen arbeiten unnötig Teilzeit, 4,5 Mio. sind geringfügig Beschäftigte und 0,8 Mio. Personen befinden sich in Arbeitsmarktmaßnahmen oder haben einen vergleichbaren Sonderstatus. Gleichzeitig sind wir mit der demografischen Herausforderung einer alternden Gesellschaft konfrontiert. Über alle Sicherungssysteme hinweg betrachtet stehen so fünf erwerbstätigen Personen drei gegenüber, die auf Transferleistungen angewiesen sind. Die Ergebnisse sind im Haushalt zu erkennen: Weil viele zu wenig für eine gute Rente verdienen, macht der Zuschuss zur Rentenversicherung bereits jetzt knapp ein Drittel des gesamten Bundeshaushalts aus (siehe Abbildung). Tendenz steigend. Doch eine niedrigere Schuldenquote kann heute nur noch wenig leisten, um diese Tendenz zu bremsen: Zinsausgaben machen seit Jahren weniger als fünf Prozent des Haushalts aus. Selbst wenn man sie völlig eliminieren würde, würde bereits ein geringer weiterer Anstieg des Zuschusses zur Rentenversicherung den freigewordenen Platz im Haushalt in Anspruch nehmen.[3] Dies war in den 1990ern und 2000ern anders, als die Zinsausgaben bis zu 15% des Haushalts in Anspruch nahmen und drohten schnell weiter anzuwachsen. Doch die Zeiten haben sich geändert.

Abbildung: Zinskosten vs. Zuschuss zur allgemeinen Rentenversicherung in % des Bundeshaushalts, Sollzahlen für 2020

Ähnliches gilt in Bezug auf Sparen bei der Ausgabe von Staatsanleihen. Im Kontext niedriger Zinsen ist dies nicht mehr förderlich für die zukünftige Tragfähigkeit öffentlicher Finanzen (Auerbach und Gorodnichenko 2017, Fátas und Summers 2018). Im Gegenteil, indem stark konsolidierende Haushalte dem Arbeitsmarkt Nachfrage entziehen – welche die Geldpolitik an der Nullzinsgrenze nicht mehr durch weitere wirtschaftsbeschleunigende Zinssenkungen ausgleichen kann – werden Tendenzen zur Unterauslastung verstärkt, was für mehr Teilzeit, Minijobs, Niedriglohnarbeit und Ähnliches sorgt. Das Verdiente reicht für die Rente nicht, die Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt wachsen weiter. Ebenso führt eine Unterauslastung der wirtschaftlichen Kapazitäten dazu, dass diese Kapazitäten im Laufe der Zeit dauerhaft schrumpfen, was die Basis zukünftiger Steuereinnahmen langfristig beschädigt. Zuletzt und mit Blick auf die über den Haushalt hinausgehende allgemeine gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit ist festzuhalten, dass die internationale Konsolidierungspolitik des letzten Jahrzehnts zu wachsender Armut, Ungleichheit und Unsicherheit beigetragen hat, sowie die Bewältigung des Klimawandels nicht beschleunigt hat.

Drei zeitgemäße Alternativen: Großaufgaben, Vollauslastung und die Zinsquote

Wenn Schuldenquote und Haushaltskonsolidierung nicht mehr gute Finanzpolitik definieren, woran genau ist gute Finanzpolitik dann festzumachen? Wir schlagen drei Kriterien vor: ob sie zur Lösung der Großaufgaben unserer Zeit beiträgt, Vollauslastung herstellt und auf eine wechselnde Zinsquote reagiert.

Unter den Großaufgaben unserer Zeit verstehen wir insbesondere die Dekarbonisierung der Wirtschaft und die Bewältigung des demographischen Wandels. Eine Finanzpolitik, die keine Antworten darauf gibt, wie sie die Lösung dieser Aufgaben unterstützen will, ist nicht zukunftsfähig. Um dieses Kriterium anzuwenden, werden wir insbesondere auf das Thema Investitionen achten, wobei es hier sowohl um ein angemessenes Volumen (und dessen Finanzierung), als auch um adäquate Ausrichtung und effektive Umsetzung, geht.

Zweitens: Im Kontext dieser Großaufgaben ist die Herstellung von Vollauslastung ein essentielles Merkmal guter Finanzpolitik. Unter Vollauslastung verstehen wir einen Wirtschaftszustand, in dem alle produktiven Kapazitäten zum Einsatz kommen und alle, die wollen und können, die Möglichkeit haben, mit eigener Arbeit ihren Lebensunterhalt und ihre Rente zu verdienen. Vollauslastung ist heute aus zwei Gründen ein nützlicher Maßstab für gute Finanzpolitik:

  • Erstens wird die rasche Dekarbonisierung der Wirtschaft die volle Mobilisierung unserer Kapazitäten erfordern. Unterauslastung können wir uns nicht leisten, wenn Deutschland bis 2045 oder früher klimaneutral werden soll. Gleichzeitig schafft ein vollausgelasteter Arbeitsmarkt die soziale Sicherheit, die notwendig ist, um den Strukturwandel mehrheitsfähig zu machen.
  • Zweitens ist Vollauslastung wichtig, um den demographischen Wandel zu bewältigen. Gute Arbeit und gute Löhne schaffen eine geringe Abhängigkeitsquote und sorgen für Sozialversicherungen, die sich ohne Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt selbst tragen. Die Rückkoppelung Haushalt-Konjunktur, Konjunktur-Haushalt wurde im letzten Jahrzehnt so deutlich, dass Jason Furman und Lawrence Summers nun argumentieren (S. 13), dass Staaten es sich heute nicht leisten können, keine expansive Fiskalpolitik zu betreiben. Die langfristigen Effekte von wirtschaftlichem Substanzverlust, welche durch einen übermäßigen Fokus auf Schuldenminimierung verursacht werden können, hätten einen sehr viel größeren Effekt auf das Defizit als die Zinskosten der Neuverschuldung.

Um dieses Kriterium anzuwenden, werden wir insbesondere darauf achten, was die Parteien als makroökonomische Ziel(e) ihrer Finanzpolitik benennen und ob sie entsprechende Vorschläge präsentieren. Dabei geht es unter anderem auch darum, wie sie planen mit der Schuldenbremse umzugehen. Denn in ihrer jetzigen Ausgestaltung führt die Schuldenbremse dazu, dass die Wirtschaft immer dann ausgebremst werden muss, sobald sie sich der Vollauslastung annähert.[4] Dies ließe sich auf verschiedene Weisen korrigieren, zum Beispiel über eine Anpassung der einfachgesetzlich geregelten Berechnungsmethoden im „Getriebe“ der Schuldenbremse oder, mit höheren politischen Hürden, einer Verfassungsreform.

Dies bringt uns zum letzten Kriterium für gute Finanzpolitik heute: ein Alarmsystem, das rechtzeitig auslöst, wenn sich die Rahmenbedingungen für Finanzpolitik wieder grundlegend ändern sollten. Der Wandel, der die alten Maßstäbe für Zukunftsfähigkeit überholt hat, war vor allem ein Rückgang des Zinsniveaus. Dies hat die tatsächlichen Kosten, die die Verschuldung im Haushalt verursacht, sprich die Zinsausgaben, erheblich abgesenkt. Weil sich die Lage in Zukunft jedoch wieder ändern könnte, gilt es Zinsen und insbesondere die Zinsquote, also das Verhältnis zwischen Zinskosten und dem Haushalt, im Blick zu behalten. Bei der Analyse der Wahlprogramme werden wir darauf achten, ob die jeweiligen Vorschläge ein solches oder ähnliches Alarmsystem beinhalten, um der Kontextabhängigkeit guter Finanzpolitik Rechnung zu tragen.

Bald ist Wahl

Am 26. September ist Bundestagswahl. Die Mehrzahl der Wahlprogramme ist bereits veröffentlicht, der Prozess der politischen Meinungsbildung in vollem Gange. Diesen wollen wir unterstützen, indem wir die hier beschriebenen Maßstäbe für eine zukunftsfähige Finanzpolitik in der Praxis anwenden. Dafür werden wir einerseits eine Reihe von Fachgesprächen veranstalten: „Reden wir über Geld – die Wahlprogramme im Finanzpolitischen Check“. In dieser Reihe werden wir – so die Terminkalender und Kapazitäten es ermöglichen – mit FinanzexpertInnen aller demokratischen Parteien über ihre Programme reden. Los geht es mit Sven Kindler vom Bündnis 90/die Grünen am 24.6 um 19 Uhr. Andererseits werden wir im Laufe des Sommers eine Veröffentlichung herausgeben, in der wir die entsprechenden Wahlprogramme unter die finanzpolitische Lupe nehmen. Damit, so hoffen wir, können wir eine Hilfe leisten bei der Identifikation zukunftsfähiger Finanzpolitik in diesem Wahljahr.


Fußnoten

[1] „In summary, using the calibration of DeLong and Summers (2012) adapted to European countries and supplemented with our estimates of the permanent effects of the 2009–11 fiscal episode we find very strong support for the conclusion that the fiscal consolidations during those years were self-defeating” (Fatás and Summers 2018, siehe auch Auerbach und Gorodnichenko 2017 und House et al. 2017).

[2] Genauer: Solange die Zinsen auf Staatsanleihen geringer als das volkswirtschaftliche Wachstum sind (r < g) führen selbst permanente Primärdefizite nicht zu einer Schuldenspirale. Mathematisch gesprochen wird, wenn r < g, aus einer exponentiellen oder konvexen Funktion, die ins Unendliche ansteigt, eine konkave Funktion, die sich asymptotisch einer festen Zahl annähert. Ein höheres Primärdefizit verschiebt dann nur noch die Zahl, an die die Schuldenquote sich asymptotisch annähert, kann jedoch keine exponentielle Spiral mehr auslösen.

[3] Diese Problematik steht unter anderem auch im Hintergrund des kürzlich erschienenen Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie zur Zukunft der Gesetzlichen Rentenversicherung.

[4] Genauer gesagt: sobald die Arbeitslosenquote unter die NAWRU fällt und die Produktionslücke negativ wird, also das tatsächlich erwartete BIP größer als das errechnete Produktionspotenzial ist, wird über die Konjunkturkomponente die rechtlich zulässige Nettokreditaufnahme (NKA) gekürzt. Eine geringere NKA bedeutet eine geringere gesamtwirtschaftliche Nachfrage, was wiederum den Arbeitsmarkt und die gesamtwirtschaftliche Auslastung ausbremst.

Der Dezernatsbrief ist ein zweiwöchentlicher Kommentar zu aktuellen Fragen der deutschen und europäischen Ökonomie. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns und erbitten deren Zusendung an info[at]dezernatzukunft.org


In den Medien:

  • In der FAZ wurde heute ein Profil von Philippa und dem Dezernat veröffentlicht. Wir fühlen uns sehr geehrt, dort so prominent vorzukommen, und empfehlen es zur Lektüre!
  • Am 26.5. präsentierte Philippa unsere Vorschläge für eine neue deutsche Finanzpolitik. Ihr Vortrag fand im Rahmen des Workshops „Weg von der Schuldenbremse – hin zu einer flexibleren Fiskalpolitik?“ statt, veranstaltet vom Forum New Economy. Das Video, die Folien und eine Kurzzusammenfassung des Papiers gibt es hier, das Papier selbst wird in naher Zukunft beim Forum New Economy veröffentlicht.
  • In den letzten Wochen war Philippa in zwei Podcasts zu hören: beim Hauptstadt-Bericht, einem Podcast aus Brüssel für die Schweiz, erklärte Philippa, weshalb wir uns aktuell keine Sorgen über zu hohe Staatsschulden machen müssen. Bei Der Achte Tag, ein Interview-Podcast aus Berlin von The Pioneer, sprach sie darüber, welche Ziele Finanzpolitik haben könnte und sollte.
  • Zu guter Letzt haben Philippa und Max letzte Woche einen Artikel bei The Pioneer veröffentlicht, in dem sie schildern, warum die Schuldenquote für eine andere Zeit als heute gemacht ist, und wie eine zukunftsfähige Finanzpolitik heute aussehen könnte.

Für den Ausblick:

  • Am 14.6. wird Max einen Vortrag bei den Hochschultagen für Nachhaltigkeit der Universität Freiburg Max wird über die Aufgaben und Reformoptionen eines nachhaltigen Finanzsystems sprechen. Zur Anmeldung geht es hier.
  • Philippas Auftritt bei Jung & Naiv musste verschoben werden. Wir geben das neue Datum an gleicher Stelle bekannt. Wir sind weiterhin gespannt und freuen uns sehr. Livestream und Video werden hier zu finden sein, wenn es soweit ist.
  • Wir freuen uns ebenfalls, am 24.6. Sven Kindler MdB, haushaltspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, zu unserer Sonderserie „Reden wir über Geld“ begrüßen zu dürfen. Am 8.7. wird ihm Carsten Schneider MdB, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, folgen. Mit den anderen demokratischen Parteien sind wir im Gespräch und hoffen bald, weitere Termine in dieser Reihe ankündigen zu können (hier geht es zur Anmeldung).
  • Fiscal Futures, eine neue überparteiliche Vereinigung junger Menschen mit Interesse an Finanzpolitik, startet nächste Woche das Projekt „(For a) European Fiscal Future“. Die Kick-Off Veranstaltung findet am 15.6. von 18:30 bis 19:30 statt, mit Jakob von Weizsäcker (Chefökonom des Bundesministeriums der Finanzen) und Rasmus Andresen (Haushaltspolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament), zur Frage „wie können wir gemeinsam die Europäische Finanzarchitektur und -politik verbessern?“. Zur Anmeldung geht es hier.
  • Morgen, Freitag, den 11. Juni um 15:00 Uhr läd die OECD zum Webinar zu “Sustainable post-pandemic recovery and public finances – which institutions do we need?” ein. Der Präsentation von Laurence Boone, Chefökonomin der OECD folgt eine Diskussion mit Christoph Badelt, Präsident des österreichischen Fiskalrats, Clemens Fuest, Präsident des Ifo Instituts, Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Jan-Egbert Sturm, Direktor der schweizerischen KOF Konjunkturforschungsstelle und Philippa. Es moderiert Nicola Brandt von der OECD. Das Event findet auf Englisch statt, die Anmeldung findet sich hier.

Hat dir der Artikel gefallen?

Show some love mit einer Spende
oder folge uns auf Twitter

Teile unsere Inhalte

Ähnliche Artikel aus unserem Archiv