Vom Urteil zur Anhörung: ein Leitfaden zu Jens Weidmanns Auftritt im Finanzausschuss des Bundestags
MATHIS RICHTMANN, MAX KRAHÉ
Anfang Mai stellte das Bundesverfassungsgericht in einem intensiv diskutierten Urteil in Frage, ob die Ankaufprogramme der Europäischen Zentralbank (EZB) verhältnis- und damit rechtmäßig seien. Neben seinen europapolitischen Folgen löste das Urteil eine Debatte aus darüber, wie ein angemessenes Verhältnis zwischen unabhängigen Zentralbanken und der parlamentarischen Demokratie auszusehen habe. Als Reaktion auf diese Diskussion wird der Präsident der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, zukünftig regelmäßig im Finanzausschuss des Deutschen Bundestags Rede und Antwort stehen, das erste Mal diesen Mittwoch.
Gemeinsam mit Positive Money Europe begleiten wir diesen Prozess. In diesem Beitrag umreißen wir zunächst zwei Themen, die wir als diskussionswürdig erachten, lose gekoppelt an das Primär- und Sekundärmandat des Europäischen Systems der Zentralbanken. Im Anschluss fragen wir, welche Bedeutung dieses neue Format für das Verhältnis zwischen Parlament und Zentralbank hat und welche übergeordneten Fragen es in den Raum wirft.
Der Spielraum rund um das Primärmandat
Das Primärmandat des Europäischen Systems der Zentralbanken—und damit sowohl der Bundesbank als auch der EZB—ist es, Preisstabilität zu gewährleisten. Nicht rechtlich festgelegt sind die Zentralbanken jedoch in ihrem Instrumentarium und der Analyse der ökonomischen Lage.
Der dadurch gegeben Spielraum ist beträchtlich, seine Nutzung durch EZB und Bundesbank kann hinterfragt werden. So zog die EZB zum Beispiel im Sommer 2011 sehr früh die Zinsbremse und trug so dazu bei, dass die Eurozone—im Gegensatz zu Großbritannien und den USA—eine zweite und wohlmöglich vermeidbare Rezession durchmachte.
Insbesondere die Verknüpfung von Arbeitslosigkeit und Preisentwicklung in der Analyse der Zentralbanken ist dabei kontrovers. Ein kurzes Eintauchen in diese Problematik erläutert warum, und erklärt wieso dieses Thema Gegenstand der Anhörung sein könnte und sollte.
Preise, Arbeit, und „wann soll gebremst werden“?
Geldpolitik entfaltet ihre Wirkung mit einiger Verzögerung: oft dauert es zwölf bis achtzehn Monate, bis eine Zinserhöhung, -senkung, oder andere Maßnahmen ihre volle Wirkung entfalten. Daher versuchen Zentralbanker stets vorauszusehen, wo Inflation in zwölf bis achtzehn Monaten stehen wird. Sollten sie den Eindruck haben, dass sie dann zu hoch sein wird, so ziehen sie bereits heute die Bremse.
Ein Indikator, dem dabei traditionell viel Gewicht bemessen wurde, ist die Arbeitslosigkeit: wird diese „zu niedrig“, so steige die Verhandlungsmacht von Arbeitnehmern, diese erkämpfen höhere Löhne, wodurch in naher Zukunft wiederum Inflation zu befürchten sei. Dieses Verhältnis—niedrige Arbeitslosigkeit gleich hohe Inflation, und umgekehrt—ist in der Ökonomie bekannt als die Phillips-Kurve.
Getrieben von der Phillips-Kurve galt bis jetzt: fällt die Arbeitslosigkeit unter einen bestimmten Wert,[1] zieht die Zentralbank die Handbremse—auch wenn heute noch kein Inflationsdruck erkennbar ist—um die Arbeitslosigkeit zu steigern und damit Inflationsdruck abzuwenden. Damit soll verhindert werden, dass in zwölf bis achtzehn Monaten Inflation kommt.
Diese Analyse ist sowohl folgenreich als auch kontrovers. Sie ist folgenreich, da sie frühes Abbremsen rechtfertigt, welches direkt die Arbeitslosigkeit steigert. Sie ist kontrovers, da oft unklar ist, ob das Abbremsen nicht doch verfrüht war und die geschaffene Arbeitslosigkeit ein unnötiges Leid darstellt.
So verkündete die Federal Reserve zum Beispiel diesen August eine Abkehr von genau dieser Interpretation der Arbeitslosenquote als potentiell inflationstreibend. Wie Jerome Powell, Präsident der Fed, darlegte, bewertet die Federal Reserve zukünftig den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Inflation neu. Nicht zuletzt auf Grund der fallenden Verhandlungsmacht von Mitarbeiter:innen in der gig-economy sowie dem gewaltigen Angebot an Arbeitskräften in globalisierten Märkten gibt es ab jetzt keinen Schwellenwert mehr, ab dem die Fed allein aufgrund fallender Arbeitslosigkeit eine geldpolitische Bremsung einlegen wird. Erst wenn tatsächlich ein akuter Inflationsdruck sichtbar wird, wird die Fed zur Handbremse greifen.
Ein angemessenes Thema für Mittwoch wäre also, ob die Bundesbank die Analyse der Federal Reserve teilt: sieht sie einen Schwellenwert, ab dem „zu niedrige“ Arbeitslosigkeit zum Inflationstreiber wird, oder sieht sie—wie seit August die Fed—die Verbindung zwischen niedriger Arbeitslosigkeit und Inflation als vorerst gebrochen an? Falls die Existenz eines Schwellenwertes bejaht wird, so wäre es interessant weiter zu fragen, welche Unterschiede zwischen den USA und der Eurozone eine unterschiedliche Analyse rechtfertigen. Zu guter Letzt könnte der Ausschuss um Auskunft bitten, welchen Beitrag die Bundesbank leisten könnte, um zu verhindern, dass eine verfrühte Zinsanhebung oder verfrühte Sparpolitik—wie 2011—den Aufschwung abwürgen. Dies gilt umso mehr, da Bundesbank-Präsident Weidmann aktuell bereits öffentlich mahnt, dass die Schuldenquote wieder auf 60% zurück geführt werden müsse, obwohl Schuldenabbau grundsätzlich deflationär, also bremsend, wirkt.
Sekundärmandat: handelt die Zentralbank ökologisch verhältnismäßig?
Neben dem Primärmandat verpflichtet ein Sekundärmandat die Zentralbanken, die allgemeine Wirtschaftspolitik der Europäischen Union zu unterstützen, insofern dies nicht die Erfüllung des Primärmandates gefährdet. Ein prominentes Ziel der von der Leyen Kommission ist dabei Nachhaltigkeit im Allgemeinen sowie die Bekämpfung des Klimawandels im Besonderen.
Ein zweites Thema der Anhörung könnte also die Frage sein, inwiefern Geldpolitik diese Priorität unterstützen oder zumindest nicht behindern könnte. Konkret könnte der Ausschuss die Anleihenkäufe von Bundesbank und EZB unter die Lupe nehmen: So haben die EZB und die ihr untergeordneten nationalen Zentralbanken seit Oktober 2014 verschiedene Anleihetypen im Volumen von etwa 3,5 Billionen, sprich 3500 Milliarden, Euro angekauft. Positive Money Europe schätzt, dass allein bis Ende 2018 circa 110 Milliarden Euro davon in die Anleihen besonders CO2-intensiver Industrien geflossen sind. Benoit Cœuré, damals Mitglied des EZB-Rates, stimmte dieser Analyse zu und argumentierte, dass die aktuelle Politik der Marktneutralität zu einem Ankauf von Unternehmensanleihen mit unerwünschtem CO2-Fußabdruck führe. Auch durch das im März aufgelegte Pandemic Emergency Purchase Programm (PEPP) dürften die Investitionen in diesen Industrien weiter angestiegen sein, bzw. weniger gefallen sein, als es sonst der Fall gewesen wäre.
Neben einer Unterstützung CO2-intensiver Unternehmen staut diese fälschlich als „marktneutral“ beschrieben Ankaufpolitik Finanzstabilitätsrisiken auf. Auch das European Systemic Risk Board, das in den Räumlichkeiten der EZB arbeitet und daher naturgemäß eng mit dieser im Austausch steht, hat bereits festgestellt, dass die Risiken der Klimakrise am Markt falsch bepreist sind. Da die Ratingagenturen, auf deren Bonitätsurteil sich das Eurosystem verlässt, diese Risiken noch nicht abbilden, unterliegen die Anleihen nicht-nachhaltiger Unternehmen einem erhöhten Risiko. Insofern die Ankäufe der EZB die Kurse dieser Anleihen stützen, vergrößern sie die Fallhöhe einer möglichen Korrektur.
Es ginge anders. In Anbetracht des Sekundärmandates könnten zum Beispiel die Anleihen von CO2-intensiven Unternehmen aus den Ankäufen der europäischen Zentralbanken ausgenommen werden. Dies würde die allgemeine Wirtschaftspolitik der Europäischen Union unterstützen ohne das Primärmandat zu gefährden.[2]
Dieses Thema, sollte es am Mittwoch aufgegriffen werden, verspricht eine intensive Diskussion im Ausschuss: Jens Weidmann hatte sich erst im Dezember gegen eine Neuausrichtung der Geldpolitik entlang der Herausforderungen der Klimakrise ausgesprochen. Spezifische Industrien geldpolitisch zu diskriminieren widerspreche der in europäischen Verträgen festgelegten Marktneutralität. Eine genaue Analyse des Marktneutralitätsprinzips zeigt jedoch, dass diese keineswegs rechtlich bindend ist, sowie ohnehin sowohl praktisch als auch theoretisch unmöglich ist. Auch derzeitiges EZB-Rats Mitglied Isabel Schnabel äußerte sich Ende August dazu. Der Klimawandel sei die größte Herausforderung für Zentralbanken, noch größer als die andauernde Pandemie, sagte die deutsche Professorin. Schnabel wies weiterhin darauf hin, dass mit Hinblick auf die falsche Bepreisung von Klimarisiken „Marktneutralität vielleicht nicht der richtige Maßstab“ sei.
Das große Ganze: Demokratische Verhältnismäßigkeit
Neben volkswirtschaftlicher Analyse und Berücksichtigung des Klimawandels gibt es eine Reihe weiterer Einzelthemen die am Mittwoch zur Sprache kommen könnten, darunter auch Jens Weidmanns Austeritätsrede vor dem Übersee Club in Hamburg vor zwei Wochen. Aber über den einzelnen Themen steht eine größere Fragestellung: was ist das richtige Verhältnis zwischen Zentralbank und Parlament in einer Demokratie?
Sollte der Austausch zwischen Parlament und Zentralbank zum Beispiel öffentlich geschehen, wie auf europäischer Ebene, oder in einer geschlossenen Sitzung, wie für Mittwoch im Bundestag vorgesehen? Falls geschlossen, inwiefern und inwieweit sollen die Parlamentarier:innen nach der Sitzung die Öffentlichkeit informieren? Wie oft und in welchem Rahmen sollen zukünftige Anhörungen stattfinden?
Neben diesen prozessorientierten Fragen stehen auch grundsätzlichere Fragen im Raum: Sollten zum Beispiel europäische Zentralbanken strategisch die Rolle des Euro unterstützen? Ist es richtig, dass „die Disziplinierung der Fiskalpolitik durch die Marktkräfte“[3] geschehen soll und nicht durch die Wählerinnen und Wähler?[4] Könnte eine zusätzliche demokratische Aufsicht der Zentralbank sogar Rückendeckung bieten, um gezielter bestimmte strategische Interventionen vorzunehmen?
Die Sitzung am Mittwoch bietet die Gelegenheit, diese und andere Fragen zum Verhältnis zwischen Demokratie und Zentralbank zu diskutieren. Damit sind sowohl der Bundesbankpräsident als auch die Parlamentarier:innen gefragt, dem gesteigerten öffentlichen Interesse an Geldpolitik gerecht zu werden. Denn wie zum Beispiel Gabor Steingarts neues Buch klar macht, welches die aktuelle Geldpolitik mit der Versklavung zukünftiger Generationen in Verbindung bringt, treiben Schattengewächse wilde Blüten. Genauer hinzuschauen, welche Entscheidungen unsere Zentralbanken weshalb treffen, ist also dringend notwendig.
[1] Der Grenzwert, ab dem Inflationsgefahr befürchtet wird, heißt NAIRU oder NAWRU. Er wird mit ökonometrischen Modellen berechnet und ist notorisch instabil.
[2] In diesem Kontext ist zu betonen, dass die Federal Reserve nur dann Unternehmensanleihen kaufen darf, wenn sie dafür vom US Kongress eine Absicherung für mögliche Verluste erhält. Dies ermöglicht dem amerikanischen Parlament ein Veto darüber, von welchen Unternehmen Anleihen gekauft werden, und sorgte dafür, dass die Fed vor Corona ausschließlich US Staatsanleihen sowie AAA-rated Mortgage Backed Securities kaufte. In der Eurozone hingegen führte die ideologische Ablehnung des Ankaufs von Staatsanleihen dazu, dass sehr schnell Unternehmensanleihen gekauft worden, ohne dass dies durch parlamentarische Abstimmungen beurteilt wurde.
[3] Jens Weidmann, 2.9.2020, “Der geforderte Staat. Rede vor dem Übersee-Club Hamburg”, zuletzt aufgerufen am 13.9.2020.
[4] Schließlich liegt es in der Hand der Zentralbank eine solche Marktdisziplinierung zuzulassen oder zu verhindern. Die Bank of England zum Beispiel verhindert dies zur Zeit, indem sie dem Staat einen unbegrenzten Dispo-Kredit zur Verfügung stellt. Eine inflationsbremsende Disziplinierung der Staatsausgaben findet so—neben der üblichen demokratischen Kontrolle durch Parlament und öffentliche Meinung—nur durch den von der Zentralbank selbst gesteuerten Zinshebel statt.
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