Menschen machen Innovation: ein Interview mit Xavier Jaravel
Jonas Kaiser, Levi Henze, Max Krahé
In seinem kürzlich erschienenen Buch Marie Curie lebt im Morbihan präsentiert der Ökonom Xavier Jaravel seine Theorie der Innovation. Er bricht dabei sowohl mit dem romantisierenden Bild individualistischer Erfinderkultur als auch mit starrem Etatismus. Für ihn stehen Menschen, ihre Verbindungen und ihre Lebenschancen im Vordergrund. Innovationspolitik, die das nicht berücksichtigt, verstärke Ungleichheit und verspiele Chancen, die Herausforderungen unserer Zeit zu lösen. Seine Perspektive hat überraschende Implikationen für die Bildungs- Handels- Regional- und Klimapolitik sowie für die europäische Integration.
Dieser Geldbrief ist ein gekürzter Auszug eines Interviews, das unsere Partnerorganisation Institut Avant-garde geführt hat. Die ungekürzte Fassung ist hier; das Interview wurde auf Französisch geführt und von Jonas Kaiser ins Deutsche übersetzt.
Die Frage nach der Beziehung von Innovation, Marktgröße und Ungleichheiten steht im Mittelpunkt Ihres Buches. Könnten Sie uns diesen Zusammenhang näher beschreiben?
Es geht darum zu verstehen, was Innovation bestimmt. Eine mögliche Sichtweise ist, dass Innovation aus Erkenntnissen hervorgeht, die aus der Grundlagenforschung stammen, und wirtschaftliche Anreize daher fast zweitrangig sind. Eine andere Sichtweise ist, dass wirtschaftliche Anreize an erster Stelle stehen und dass Innovationen je nach Anreizen recht unterschiedlich ausfallen.
Tatsächlich sieht man in den Daten, dass diese zweite Sichtweise viele Unterschiede in der Innovationstätigkeit zwischen Sektoren erklärt. Marktgröße spielt dabei eine sehr wichtige Rolle. Die Idee ist einfach: Wenn Sie einen ausreichend großen Markt haben, können Sie in die notwendigen Innovationen investieren. Mehr als die Marktgröße selbst ist es empirisch gesehen vor allem das Wachstum der Marktgröße, das zählt.
Das Beispiel der USA zeigt, wie diese Innovationsdynamiken, die durch die Marktgröße angetrieben werden, Ungleichheiten verstärken können. In den USA nimmt die Einkommensungleichheit zu, im Gegensatz zu Frankreich. Und somit werden die Reichen schneller reicher als die anderen. Daher wachsen die Märkte für Güter, die vorwiegend von Reichen gekauft werden, schneller als andere Märkte, und es gibt mehr Innovationen in diesen Segmenten.
Nehmen wir nur ein Beispiel: Bioprodukte. Es gibt eine große Nachfrage reicher Menschen, insbesondere junger Reicher, und folglich viele Innovationen in diesem Bereich. Und dadurch einen Preisrückgang.
Die Feststellung dieser Wechselwirkung lässt neue Risiken und Beschränkungen erkennbar werden. Wie können wir diesen Gefahren begegnen?
In der Tat ist das eine Beschränkung, wenn ein großer Teil der Innovation von der Marktgröße abhängt. Das sollte man immer im Kopf behalten, insbesondere in Bezug auf Handelspolitik. Protektionismus schafft erhebliche Risiken für die Innovationsfähigkeit, wenn die Marktgröße zu stark reduziert wird. Das ist ein erster Punkt.
Der zweite Punkt ist, dass Sie in einem Land wie den Vereinigten Staaten, wo die Ungleichheit zunimmt, Innovationen zunehmend bei Produkten für Reiche finden. Und das ist eher eine schlechte Allokation von Innovation. Das zeigt also, dass die Besteuerung von Einkommen auch dazu dient, die Innovation umzulenken.
Schließlich gibt es einige Märkte, von denen man gesellschaftlich denkt, dass sie zu Innovationen führen sollten, dies aber nicht geschieht, weil sie zu klein sind. Das kann zum Beispiel bei seltenen Krankheiten der Fall sein, auch in reichen Ländern, oder allgemeiner bei Gesundheitsproblemen in Entwicklungsländern, wenn man beispielsweise an Impfstoffprobleme gegen Malaria denkt.
Sie stellen eine klassische Erklärung für den Mangel an Innovation in Europa in Frage: Dass dieser auf eine zu vorsichtige Haltung, auf Kultur zurückzuführen sei.
Tatsächlich ist der Grund viel prosaischer: Der europäische Markt ist noch zu segmentiert. Wir haben nationale Märkte, die klein sind und sich nicht mit den USA oder China vergleichen lassen. Was wir in Europa tun können, ist genau diese Barrieren im gesamteuropäischen Markt zu verringern. Zunächst mit sektoralen Regulierungen, damit junge Unternehmen problemlos in mehreren Ländern gleichzeitig operieren können.
Der zweite Aspekt ist die Globalisierung. Die Sichtweise, die ich vertrete, ist, dass man protektionistisch sein kann, aber auf eine gezielte Weise. Das ermöglicht es, sich nicht vom globalen Markt abzukoppeln, der für Europa wesentlich ist. Ein gezielter Protektionismus kann die Abhängigkeiten durch die Einfuhr kritischer Komponenten oder Rohstoffe aus dem Ausland verringern.
Eine andere Analyseebene in Ihrem Buch ist die regionale. Können Sie uns in diesem Zusammenhang den Titel Ihres Buches erklären?
Der Titel fasst eine der Hauptideen des Buches zusammen. Nämlich, dass es einen ungenutzten Talentpool gibt: verlorene Marie Curies, die sich überall befinden. Das Buch zeigt, dass dies auf sämtliche Bevölkerungsgruppen zutrifft.
Warum Morbihan? Es ist das französische Département mit der niedrigsten Rate an Kindern, die Ingenieur:innen oder Forscher:innen werden, obwohl es gleichzeitig eines mit den besten Schulabschlussnoten ist.
Mein Argument ist, dass das Wecken einer Berufung genauso wichtig ist wie die klassischen Instrumente der Innovationspolitik, die Forschungszulage oder die Anschubfinanzierung.
Sie sprechen von einer selektiven Soziodemografie der Innovator:innen. Welche Auswirkungen könnte eine Änderung dieser soziodemografischen Merkmale haben?
Was ich angesprochen habe, ist die Unterrepräsentation von Frauen und Menschen aus einkommensschwächeren Verhältnissen. Diese Tendenz ist in vielen Ländern zu beobachten. Die Konsequenz ist, dass Innovation hauptsächlich denjenigen zugutekommt, deren Eltern bereits in der Welt der Innovation etabliert sind. Dies schafft bedeutende intergenerationelle Ungleichheiten.
Eine weitere Konsequenz betrifft die Art der Erfindungen. Man sieht, dass die Identität des Innovators oder der Innovatorin die resultierende Innovation beeinflusst. Ein markantes Beispiel ist Louis Braille, der im Alter von 5 Jahren erblindete und später das Blindenschriftsystem erfand.
Was können wir also tun?
Ein sehr gutes Mikrobeispiel kommt aus Frankreich, von einer Studie der Paris School of Economics, die ein Programm der L’Oréal-Stiftung untersucht hat. Es handelte sich um eine kurze Intervention in Gymnasien, die wissenschaftliche Karrieren vorstellten. Die Interventionen waren sehr kurz, etwa 2,5 Stunden, aber die Initiative hatte einen signifikanten Einfluss auf den Wunsch, eine Karriere in diesen Bereichen zu beginnen, insbesondere bei mathematisch begabten Mädchen.
Ursprünglich entschieden sich unter den besten Mathematikerinnen 24% für eine wissenschaftliche Vorbereitungsklasse (Anm.: eine Vorbereitungsklasse, frz. classe préparatoire ist ein verbreiteter zwei- bis dreijähriger Abschnitt der höheren französischen Bildungslaufbahn nach dem Gymnasialabschluss). Nach der Intervention waren es 37% in den besuchten Klassen, während die Basisrate bei Jungen bei etwa 45% lag. Also, wenn das Ziel ist, Parität in wissenschaftlichen Vorbereitungsklassen zu erreichen, erreicht man den Großteil des Ziels mit einer kostengünstigen Maßnahme. Das zeigt die Macht schulischer Laufbahnberatung.
Dies war ein gekürzter Auszug des Interviews. Die ungekürzte Fassung findet sich hier.
Xavier Jaravel ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics and Political Science. Im Jahr 2021 erhielt er den Preis für den besten jungen Ökonomen, der von der Zeitung „Le Monde“ und dem „Cercle des Économistes“ vergeben wird. Laut der IDEAS/RePEc-Rangliste 2023 wird er unter den weltweit am häufigsten zitierten jungen akademischen Ökonomen in den Top 5 geführt.
Unsere Leseempfehlungen:
- Minouche Shafik (2021): “What We Owe Each Other: A New Social Contract for a Better Society”.
- Bell et al. (2019): “Who Becomes an Inventor in America?”, The Quarterly Journal of Economics.
- Blundell et al. (2022): “Inequality and Creative Destruction”, CEPR Discussion Paper.
Medienbericht 11.01.2024
- Medienerwähnungen und Auftritte
- Am 28.12.23 hat die Frankfurter Rundschau einen Artikel über Menschen, die 2023 beeindruckt haben, veröffentlicht und Philippa ist dabei.
- Am 28.12.23 hat Finanz und Wirtschaft unsere Vorschläge zur Schuldenbremse erwähnt.
- Am 29.12.23 hat Exame unsere Studie zu fossilen Brennstoffen und ihren Einfluss auf ökonomische und politische Stabilität („Fossil Fuel to the Fire“) aufgegriffen.
- Am 31.12.23 hat die Financial Times über die Debatte zur deutschen Schuldenbremse geschrieben und dabei aus Philippas, Max und Alexander Thieles Artikel in der FAZ „Höchste Zeit für eine Grundgesetzänderung“ zitiert.
- Am 10.01.24 hat De Tijd ebenfalls den Artikel in der FAZ „Höchste Zeit für eine Grundgesetzänderung“ von Philippa, Max und Alexander Thiele erwähnt.
- Heute Abend, am 11.01.24, ist Philippa bei Markus Lanz im ZDF zu Gast. Ab 23:15 Uhr könnt ihr die Sendung live im TV oder per Stream verfolgen. Anschließend ist die Sendung in der ZDF Mediathek verfügbar.
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