Einkäufer letzter Instanz
Der europäische Impf-Fehlstart kostet Menschenleben. Es ist wichtig, seine Ursachen aufzuarbeiten sowie daraus zu lernen. Und auch wenn — Stand heute — noch nicht alle Fakten feststehen, ist bereits erkenntlich, dass die von der EU angestrebte Risikoaufteilung zwischen Staat und Privatwirtschaft ein erheblicher Bremsklotz war, in dem sich ein verfehltes Staats- und Wirtschaftsverständnis offenbart.
- Unklar, ob unter der EU-Strategie genug & früh genug in Impfstoffproduktion investiert wurde
- Diskussionen über Haftungsübernahme zogen Verhandlungen in die Länge
- Maximal beschleunigter Kapazitätenaufbau erfordert staatliche Risikoübernahme
Der Stoff fehlt
In den reichen Ländern der Welt machen die Impfkampagnen Fortschritte. Doch innerhalb dieser Gruppe sind die Unterschiede groß. Israel und die Vereinigten Arabischen Emirate haben bereits mehr als 60 bzw. 40 Impfdosen pro 100 Einwohner verabreicht, das Vereinigte Königreich knapp 20 und selbst die USA mehr als 10. In der Europäischen Union, wie auch in Deutschland, liegt der Durchschnitt bei knapp 4.
Die Ursache: Es fehlt ausreichend Impfstoff. Allein das Land Hessen könnte z.B. sein Impftempo verzehnfachen, wenn genügend Impfstoff vorhanden wäre, um alle 28 Impfzentren unter Vollast laufen zu lassen.
Ohne Zweifel wird die Impfstoffproduktion jetzt weiter hochgefahren. Doch der internationale Vergleich zeigt: Während andere Staaten als „Investoren der ersten Instanz“ früh Risiken aufnahmen und aktiv das Schaffen von Produktionskapazitäten begleiteten, handelte die Europäische Union als „Einkäufer der letzten Instanz“, mit dem Ziel risikoarm und möglich günstig wegzukommen. Dies rächt sich nun in Europas ruckeligem Start.
Richtig: ins Ungewisse ausbauen
In der Impfstoffproduktion hatten Entscheidungsträger im letzten Jahr mit großen Unsicherheiten zu tun: Es war nicht klar, welches Unternehmen einen wirksamen Impfstoff finden würde und wie schnell. Gleichzeitig war klar, dass, sobald ein Impfstoff gefunden war, dieser so schnell wie möglich massenproduziert werden sollte. Genauso klar: der Aufbau von Impfstoffmassenproduktion ist ein technisch herausforderndes Unterfangen, Kapazitäten entstehen nicht über Nacht. Was wäre unter diesen Bedingungen der richtige Entscheidungskompass für Investitionen in Produktionskapazitäten gewesen?
Die USA und das Vereinigte Königreich scheinen bewusst eine Strategie des Kapazitätenausbau ins Ungewisse verfolgt zu haben. Die amerikanische „Operation Warp Speed“ war an die Kriegswirtschaft der USA im zweiten Weltkrieg angelehnt und sollte Impfstoffe von der Forschung bis in den Arm bringen. Dabei galt: „Die Produktionskapazitäten für ausgewählte Impfstoffkandidaten werden bereits ausgebaut während diese sich noch in der Entwicklung befinden, und nicht erst nach deren Zulassung oder Genehmigung“.[1] Sprich: der Ausbau der Produktionskapazitäten wurde (mit öffentlichen Geldern) auf Risiko finanziert, bevor klar war, wann und ob welcher Impfstoff zugelassen werden würde. Bis Mitte Dezember investierte das Programm insgesamt 12,4 Mrd. US-Dollar, knapp die Hälfte davon (siehe Chart 1) gezielt in den Aufbau von Produktions-, Verpackungs- und Versandkapazitäten. Auch die Regierung des Vereinigten Königreichs investierte bereits im Mai 2020 in Produktionskapazitäten, lange bevor klar war, welche Vakzine letztendlich erfolgreich sein werden.
Produktionskapazitäten auf gut Glück aufzubauen, genau davor scheute die deutsche Bundesregierung zurück. Jens Spahn sagte dazu in der FAZ: “Vielleicht hätte man mit dem Wissen von heute schon mal Produktionsstätten auf gut Glück aufgebaut. Aber stellen Sie sich vor, wir wären mit 30 Mrd. Euro eingestiegen und es hätte am Ende nicht geklappt? Dann würden Sie mir jetzt ganz andere Fragen stellen.”[2]
Zwar wurden BioNTech, CureVac und IDT Biologika von der Bundesregierung mit insgesamt 741 Mio. Euro gefördert, auch um Produktionskapazitäten auszubauen. Doch ging es dabei um „die rasche Herstellung von Impfstoffen für die klinische Prüfung“, nicht um einen Vorausbau für die spätere Massenproduktion.
In der Europäischen Union ist die genaue Zahlenlage unübersichtlich. BioNTech und CureVac erhielten Kredite der Europäischen Investitionsbank (EIB) über insgesamt 175 Mio. Euro, die auch für den Ausbau von Produktionskapazitäten verwendet werden konnten. Weitere Gelder flossen über sechs andere Kanäle.[3] Doch auch hier scheint es, dass sich die Mittelvergabe auf die Förderung von Forschung konzentrierte, der Ausbau zukünftiger Massenproduktion hingegen keine Priorität war.
Angesichts der enormen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten der Pandemie ist klar, dass es hier eine richtige Handlungsoption gegeben hätte: Kapazitäten auch ins Ungewisse maximal ausbauen. Bezüglich der Frage, ob höhere staatliche Investitionen im vergangenen Jahr heute in Europa höhere Produktionsmengen geschaffen hätten, gehen die Meinungen zwar auseinander. Rückblickend räumt Ursula von der Leyen jedoch ein, dass die Herausforderungen der Massenproduktion nicht früh genug beachtet wurden. Auch der Chefentwickler von IDT Biologika hielt fest: „Die Entwicklung von Produktionskapazitäten im Vorgriff für so einen Bedarf, das wäre sicher etwas gewesen, was uns allen zusammen geholfen hätte.“
Haftung übernehmen
In der Haftungsfrage ist die Faktenlage noch klarer: Europa ging einen Sonderweg. Auf Druck des Europaparlamentes zielte die Europäische Kommission in ihren Verhandlungen darauf ab, möglichst viel Haftungsrisiko bei den Herstellern zu lassen. Dies betonte Sandra Gallina, die Chefverhandlerin der Kommission, im September 2020 sowie erneut diesen Januar. Auch Angela Merkel unterstützte diese Linie. Was letztendlich verhandelt wurde ist schwer auszumachen, da die Lieferverträge bis jetzt größtenteils geheim blieben. Aber die zeitlichen Auswirkungen sind eindeutig: „Dies war der Hauptgrund weswegen die EU-Verhandlungen länger dauerten“, so der Vorsitzende des Europaparlament-Gesundheitsausschusses.
Anders in den USA: Dort sind Pharmakonzerne im Falle eines öffentlichen Gesundheitsnotstand fast vollständig von der Haftung ausgeschlossen. Impfstoffhersteller können auf Grund des sogenannten PREP Act bei Nebenwirkungen einer Impfung vor Gericht nicht auf Schadensersatzzahlungen verklagt werden.
Hohe (Zeit)Kosten, kaum Nutzen
Auf den ersten Blick scheint die europäische Strategie umsichtiger: Die Unternehmen, die den Impfstoff entwickeln und produzieren, sollen auch für etwaige Risiken und Nebenwirkungen haftbar sein. Schließlich werden sie auch bezahlt für die Vakzine.
Doch bei genauerem Hinschauen offenbart sich die Kommissionsstrategie als kostspielig an Zeit und arm an Nutzen. Denn wozu wird normalerweise das Risiko dem Privatsektor überlassen? Damit er starke Anreize hat, das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Das war in diesem Fall unnötig: die Brisanz des Impfthemas und das Ausmaß eines etwaigen Reputationsschaden wären Anreiz genug gewesen, der zusätzliche Effekt von rechtlicher Privathaftung gering.
Die Zeitkosten dieser angestrebten Risikoverschiebung hingegen waren erheblich: Jede Pharmafirma, die einen Impfstoff massenproduziert und dessen Haftungsrisiko voll trägt, würde beim Risikoeintritt durch Finanz- und Reputationsschaden an den Rand der eigenen Existenz gebracht werden. Dass der Versuch, so viel Risiko wie möglich auf den Privatsektor zu laden ohne die Firmen aus Angst um die eigene Existenz zu einem Totalrückzug zu bewegen, zeitintensiv war, ist wenig überraschend. Ebenso scheint es, dass am Ende der zähen Verhandlungen doch viele Risiken auf die Schultern der EU fallen, wobei das genaue Ausmaß unklar bleibt. Für geringen Nutzen wurden massive Kosten in Form von Verzögerungen in Kauf genommen.
Ein grundlegendes Missverständnis
Neben vermeidbaren Verzögerungen offenbart die Strategie der EU-Kommission ein grundsätzliches Missverständnis im Verhältnis von Staat zu Markt.
Im Auftrag der Bundesregierung und der anderen Mitgliedsstaaten verhielt die Kommission sich wie ein Verbraucher, der mit Produktion und Risiko nichts zu tun haben wollte. Ziel und Ansatz war, vom Markt ein fertiges, sicheres Produkt zu erwerben, zusammen mit einem Anspruch auf Widergutmachung, falls etwas schief gehen sollte. Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, dass der Staat ein Marktteilnehmer wie jeder andere sei, der das Verhalten der anderen Marktteilnehmer als gegeben hinnehmen muss, dafür im Gegenzug einen verlässlichen und notfalls einklagbaren Anspruch auf Vertragserfüllung hat.
Diese Vorstellung ist doppelt falsch. Denn der Staat bestimmt und sichert die Rahmenbedingungen, innerhalb derer eine Marktwirtschaft überhaupt möglich ist; und er hat als einziger Akteur die Möglichkeit, auf die Summe aller Ressourcen zuzugreifen, die einer Gesellschaft zur Verfügung stehen.
Einerseits muss er daher das Verhalten der Marktteilnehmer nicht als gegeben hinnehmen; andererseits gibt es daher keine höhere Instanz, von der er Vertragserfüllung einklagen kann. Falls in existenziellen Fragen etwas schiefgeht kann also schlicht niemand anderes haften.
In unserem konkreten Fall gilt: Gerichte stellen keinen Impfstoff her. Wenn private Firmen beim Anlauf der Impfstoffproduktion stolpern, dann hilft auch die vertragliche Absicherung nicht. Im Bewältigen existenzieller Herausforderungen trägt der Staat notwendigerweise die Letztverantwortung, denn die Wirtschaft ist keine externe Macht, auf die im Versagensfall noch zusätzlich zurückgegriffen werden kann.
Das Missverständnis, dass es entweder möglich oder nützlich sei, wirklich große Risiken auf den Privatsektor auszulagern, ist umso weniger verständlich, weil es in anderen Bereichen nicht auftritt. So verfolgt z.B. der Bund das Selbstversicherungsprinzip,[4] da er erkennt, dass niemand eine höhere Risikotragfähigkeit hat als die öffentliche Hand. Auch werden die Restrisiken von Atomkraftwerken grundsätzlich von der öffentlichen Hand getragen,[5] da sie sonst niemand schultern könnte.
Verantwortung schultern, nicht abstreifen
Frau Gallina sagt noch Anfang Februar: “Mit mehr Geld hätten wir definitiv nicht mehr Dosen erhalten… Denn das Problem … ist die Herstellung.”[6] In diesem Satz kristallisiert sich das grundlegende Missverständnis der EU-Strategie: Sie sah den Privatsektor als Black Box, an den sie nur als passiver, wenn auch hart feilschender, Käufer herantrat, dessen inneren Strukturen und Entscheidungen sie jedoch als gegeben hinnahm. Dies war ein Fehler und ein Abdanken von Verantwortung. Wie die USA und England zeigen, wäre die besser Alternative gewesen, dass der Staat explizit die Gesamtverantwortung übernimmt, sowohl das (finanzielle) Risiko als auch die Letztentscheiderrolle schultert und (Pharma)unternehmen gezielt als technisch versierte Erfüllungsgehilfen einsetzt. So wäre ein schnellerer, selbstverständlich auch risikobehafteter(er), Kapazitätsausbau möglich gewesen — und damit auch ein schnelleres Ende der Pandemie.
Fußnoten
[1] “Manufacturing capacity for selected candidates will be advanced while they are still in development, rather than scaled up after approval or authorization.”
[2] In diesem Kontext relevant: die Allianz schätzt, dass eine fünfwöchige Verzögerung in der Impfkampagne Europa ca. 90 Milliarden Euro an verlorener Wirtschaftsleistung kostet.
[3] Das Horizon 2020 Programm, die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations, die European and Developing Countries Clinical Trials Partnerschaft, den Europäischen Innovationsrat, das Europäische Innovations- und Technologieinstitut und die Europäischen Struktur- und Investmentfonds.
[4] Der Bund versichert seine Risiken an Personen, Sachen und Vermögen grundsätzlich nicht gegen Prämien am Markt, sondern bezahlt im Schadensfall aus eigenen Mitteln.
[5] Entweder explizit, durch staatliche Versicherungsgarantien, oder implizit, durch gesetzliches Deckeln der privaten Haftung.
[6] „We definitely would not have obtained more doses with more money… Because the problem … is manufacturing”
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