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24. August 2019
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Max Krahé

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Die Macht des Rechts: Katharina Pistors Code of Capital

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MAX KRAHÉ

Was ist Kapital? Dieser nur scheinbar einfachen Frage geht Katharina Pistor, Jura-Professorin an der Columbia Law School, in ihrem neuen Buch The Code of Capital nach.

Die Kernunterscheidung, die das Buch feststellt und ausführt, ist zwischen Gütern und Kapital. Güter sind Objekte, Forderungen, Fähigkeiten, Grund und Boden, Ideen, oder auch einfach Geld. Kapital ist die Kombination aus solchen Gütern und bestimmten rechtlichen Modulen. Gut und “code”, so The Code of Capital, ergeben Kapital. Entscheidend ist dabei, dass die rechtlichen Module dafür sorgen, dass die entsprechenden Güter mit hoher Wahrscheinlichkeit Mehrwert oder Gewinn abwerfen.

Recht und Kapital

Genauer gesagt sind es vier spezielle Attribute, die dafür sorgen, dass ein bestimmtes Gut oder eine bestimmte Güterklasse zu Kapital wird (S. 13-15). Diese muss das Recht sichern, um aus reinem Besitz Kapital zu machen:

  • Priorität („priority“) gegenüber konkurrierenden Besitzansprüchen, damit zum Beispiel der Eigentümer eines Stückes Land dieses behält, falls der Pächter, an den er es verpachtet hat, in die Insolvenz gehen sollte.
  • Beständigkeitsschutz („durability“). Das Attribut der Priorität schützt den Eigentümer von Kapital gegen die Unglücke anderer. Doch auch ihn selber kann Unglück befallen. Um Besitz dauerhaft zu machen, und es so in Kapital zu verwandeln, muss der Besitzer einen gewissen Schutz gegen seine eigenen Gläubiger genießen. Solange zum Beispiel Grundbesitz nicht gepfändet werden durfte (selbst nicht, wenn es mit einer Hypothek belegt war), konnte es als Kapital verlässlich Früchte abwerfen und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Heutzutage genießt z.B. die klassische GmbH einen Beständigkeitsschutz gegenüber ihren Aktionären: diese können zwar ihre Aktien verkaufen, sie können allerdings nicht die GmbH zwingen, ihnen das eingezahlte Kapital wieder auszuzahlen.
  • Allgemeingültigkeit („universality“). Private Verträge können Priorität und Beständigkeitsschutz zwischen Vertragsparteien herstellen. Solange jedoch nur die Vertragsparteien gebunden sind, besteht das Risiko, dass eine dritte Partei das Gut beansprucht. Allgemeingültigkeit sorgt dafür, dass Forderungen und Ansprüche nicht nur zwischen Vertragsparteien gelten—z.B. zwischen Käufer und Verkäufer—sondern dass der Staat die entsprechenden Ansprüche gegen jedermann (erga omnes, im Juristenlatein) verteidigt.[1]
  • Konvertierbarkeit („convertibility“). Dieses Attribut gibt Besitzern den Anspruch, ihre Güter in Staatsgeld zu verwandeln, falls sich kein privater Abnehmer finden sollte. Während die anderen Attribute Kapital gegen fremde Gläubiger, eigene Gläubiger, und die Ansprüche Dritter schützt, sorgt dieses Attribut für Schutz gegen Wertverfall. Da staatliches Geld das einzige Gut ist, dessen (nominale) Kaufkraft sicher ist, sichert Konvertierbarkeit, dass auch bei Verlust von Privatnachfrage Kapital nicht völlig seinen Wert verliert. Ein Beispiel dieses Attributs ist die Bereitschaft von Zentralbanken, gewisse Wertpapiere anzunehmen und im Tausch Zentralbankgeld zur Verfügung zu stellen.

Diese vier Attribute, so argumentiert Pistor, sind die Grundlage großer Vermögen im Kapitalismus. Pistor erkennt an, dass „besondere Fähigkeiten, harte Arbeit und [….] persönliches Opfer [….]“ durchaus zum Erfolg der Reichen beigetragen haben mögen; aber „ohne rechtliche Kodifizierung wären die meisten dieser Vermögen von kurzer Dauer gewesen“ (S. 4). [2] So ist es der rechtliche Rahmen, nicht die individuelle Leistung, die aus vorübergehendem Besitz dauerhaftes, und dauerhaft gewinnabwerfendes, Kapital macht.

Dabei ist diese Kodifizierung niemals neutral: bestimmten Gütern und bestimmten Güterklassen werden die vier Attribute im Laufe der Zeit gewährt, anderen werden sie entzogen. Mithilfe von Vertragsrecht, Eigentumsrecht, Pfandrecht, Stiftungsrecht, Körperschaftsrecht, und Konkursrecht wird so die Verteilung von Eigentum und Vermögen beeinflusst.

Eine kapitale Rechtsgeschichte

Nachdem das Buch diese Grundideen präsentiert hat, verfolgt es die Metamorphosen von Kapital über weite historische Zeiträume: von der Kodifizierung von Grund und Boden als Kapital, über die Herausbildung von Unternehmen und Schulden als Kapital, bis hin zu Wissen als Kapital, in Form von geistigem Eigentum, Gensequenzen, und zuletzt auch Algorithmen.

Unterwegs präsentiert sie nicht nur wichtige Ideen, sondern auch eine Reihe von hochinteressanten Fakten und historischen Details, darunter eine „institutionelle Autopsie“ von Lehman Brothers (Kapitel drei), eine Kurzgeschichte von handelbaren Schuldtiteln (S. 88-91), eine bündige Rechtssoziologie der Unterschiede zwischen (angelsächsischem) Common Law und (römisch-stämmigen) Civil Law (S. 167-76), sowie eine zugängliche Erklärung, warum Investor-State Dispute Settlement (ISDS) Arrangements zurecht so kontrovers diskutiert wurden, wie dies vor einigen Jahren rund um TTIP der Fall war (S. 136-57).

Was Pistor’s Buch besonders auszeichnet, sind jedoch die Ideen und Konzepte, die sie aus Fakten und Rechtsgeschichte destilliert. So gelingt es ihr zum Beispiel, durch die Analyse von so grundverschiedenen Gütern wie Land, Körperschaften, und Algorithmen, zu vermitteln, dass—entgegen der Annahmen vieler Volkswirte—Kapital kein Ding oder Gegenstand ist (S. 10), sondern eine „Rechtsqualität, die hilft, Vermögen zu schaffen und zu schützen“. Wer über Kapital redet, so demonstriert Pistor, spricht immer über Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, strukturiert durch Recht und Gesetz, nicht über Beziehungen zwischen Mensch und Sache.

Ebenso zeigt sie anhand von historischen Beispielen, dass Kapital-relevantes Recht nicht nur wandelbar und plastisch war und ist, sondern dass ein Großteil rechtlicher Veränderungen von Anwälten in den Diensten privater Parteien ausging, und nicht Parlamenten oder dem Staat entsprang.

Dies wiederum wirft neues Licht auf eine Debatte, die seit mehr als einem Jahrhundert lodert und vor kurzem wieder aufgebrannt ist: wie ist das Verhältnis zwischen Kapital und Staat? Während in traditioneller marxistischer Analyse der Staat „ein Ausschuss [ist], der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoise verwaltet”, sprich der Staat als ganzer gekapert ist, so zeigt Pistor, wie Vertreter des Kapitals Staatsgewalt auf ihre Seite bringen können—durch Einflussnahme auf das Recht, sprich den Kodex des Kapitals—ohne den Staatsapparat als solchen übernehmen zu müssen.

Ein letzter erhellender Einblick,  ist Pistors Analyse der Globalisierung. So schreibt sie, „Die Tatsache, dass das Kapital global geworden ist, widerlegt nicht das Argument, dass staatliche Macht für den Kapitalismus zentral ist. Denn globale Kapitalmobilität ist eine Funktion einer rechtlichen Infrastruktur, die letztlich von Staaten getragen wird“ (S. 18). Entscheidend ist dabei, dass Staaten ausländisches Recht in ihren eigenen Gerichten durchsetzen, beziehungsweise die Umsetzung von Urteilen ausländischer Gerichte mithilfe der eigenen Staatsgewalt erzwingen. Dies, die globale Anerkennung und Durchsetzung bestimmter nationaler Rechtsordnungen, ist „das Rückgrat des globalen Kapitalismus“ (S. 18).[3]

Wo ist der Gesetzgeber? Und welche Rechtsmodule haben den längsten Hebel?

Das Buch lässt zwei Fragen offen. Erstens, die Motive und Entscheidungen des Gesetzgebers, zweitens, die relative Wichtigkeit der verschiedenen Rechtsmodule und Rechtsbereiche. In Bezug auf die erste Frage stellt Pistor zwar fest, dass der Gesetzgeber kein reiner Erfüllungsgehilfe des Privatkapitals ist—TTIP, zum Beispiel, wurde nicht durchgesetzt, und ISDS wurde in CETA durch eine demokratischere Alternative ersetzt—doch bleibt unklar, unter welchen Umständen der Gesetzgeber demokratisch handelt, und wo nicht. Verschiedene Theorien und Antworten werden angeschnitten,[4] eine eigene Theorie fehlt jedoch dem Buch. So weiß der Leser am Ende zwar, dass ein Großteil rechtlicher Veränderungen von privaten Akteuren ausgehen, oft im Dienste und Sinne von Kapitalbesitzern. Aber es bleibt unklar, wann, wo, und warum der Gesetzgeber manchen Veränderungsversuche zustimmt bzw. sie geltend macht, andere jedoch ablehnt oder nicht durchsetzt.

Recht schafft Kapital, so Pistor. Kapital schafft Ungleichheit, so Piketty. Kapitalmobilität und andere Rechtsmodule erlauben Steuerhinterziehung und das Verstecken von Vermögen, so Zucman. Und, so Case und Deaton (2015, 2017), Ungleichheit und eine maximal kapitalfreundliche Rechtsordnung kosten Leben. Klar ist also, dass die rechtlichen Themen, auf die sich Pistor konzentriert, im höchsten Maße wichtig sind. Doch welche Module sind wie wichtig, welche am wichtigsten? Hat ISDS größere Auswirkungen auf Ungleichheit und Volkssouveränität, oder ist das internationale Regime von intellektuellem Eigentum wichtiger? Oder ist vielleicht die Möglichkeit, dass Firmen ihre Heimatjurisdiktion frei auswählen können, das entscheidende Rechtsmodul? Oder eine bestimmte Kombination aus zwei oder drei Modulen? Auch hier lässt das Buch den Leser im Unklaren.

Antworten auf diese beiden Fragen würden den Rahmen des Buches sprengen. Und beide Fragen so stellen zu können, ist überhaupt erst durch Pistors Buch so möglich geworden. Insgesamt handelt es sich also um ein Buch, das jedem interessierten Leser ans Herz zu legen ist. Seine Kernbotschaften sind: Reichtum und Eigentum sind komplex und rechtlich bedingt; sie sind weder simpel noch natürlich. Das Recht schafft keine gleichen Wettbewerbsbedingungen, sondern ist—zumindest im Kapitalismus—zuallererst eine Methode, um gewisse Forderungen gegenüber anderen durchzusetzen. Und, last but certainly not least, das Recht könnte und kann immer anders sein, und es ist die Aufgabe der Politik, die bewusste Wahl zwischen diesen Alternativen möglich zu machen. Es ist zu hoffen, dass bald eine deutsche Übersetzung erscheint.

Katharina Pistor: The Code of Capital. Princeton University Press, Princeton (New Jersey): 320 S., 29,95$.


[1] Hier wird bereits einer der Kernpunkte des Buches klar: Kapital kann nur durch staatliches Handeln geschaffen werden. Das Attribut der Allgemeingültigkeit kann nicht durch rein privates Handeln hergestellt werden.

[2] Alle Zitate übersetzt aus dem Englischen von Dezernat Zukunft.

[3] Dabei handelt es sich vor allem um englisches Recht sowie das Recht des Bundesstaates New York, siehe Kapitel sechs.

[4] Als Erklärungen werden z.B. erwähnt: (a) Staatstäuschung/Staatsirrtum (S. 20), (b) staatliches Eigeninteresse (S. 20, 215), (c) die Erosion und Umgehung existierenden Rechtes (S. 152, S. 208), und (d) Kaperung des Staates durch Interessensvertreter des Kapitals, oder direkte Einflussnahme derer auf den Staat (S. 208).

Bild: ©Princeton University Press

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