70 Milliarden Euro für unsere Zukunft – Eine neue deutsche Finanzpolitik
Max Krahé, Pola Schneemelcher
Letzte Woche haben wir beim Forum New Economy unsere Vorschläge für eine neue deutsche Finanzpolitik veröffentlicht. Unser Kernargument: zukunftsfähige Staatsfinanzen hängen heute an einer produktiven Wirtschaft und einem vollausgelasteten Arbeitsmarkt, nicht mehr am Erreichen einer bestimmten Schuldenquote. In diesem Dezernatsbrief fassen wir unsere Vorschläge, wie zukunftsfähige Finanzpolitik in der Praxis aussehen könnte, knapp und übersichtlich zusammen.
Eine neue finanzpolitische Zeit
Finanzpolitisch leben wir in einer neuen Zeit. Die Zinsen sind so niedrig wie noch nie, Staatsanleihen haben negative Renditen. Gleichzeitig steht Deutschland vor zwei Großaufgaben: dem Um- und Aufbau einer produktiven und dekarbonisierten industriellen Wirtschaft ohne Kernenergie, und dem Erhalt unseres Wohlstands trotz einer alternden Gesellschaft. Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert Investitionen in großem Umfang, die Mobilisierung aller verfügbaren Arbeitskräfte sowie ausreichend hohe Löhne, um Produktivitätsgewinne in Kaufkraft zu übersetzen und Lebensstandards und Renten zu sichern.
Doch eine produktive Wirtschaft ist nicht nur um ihrer selbst willen erstrebenswert. Mit ihr steht und fällt gleichzeitig die Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit der öffentlichen Finanzen, gerade heute: Während Zinszahlungen im Jahr 2019 nur 3,5 % des Bundeshaushalts ausmachten, beliefen sich die Zuschüsse an die gesetzliche Rentenversicherung auf fast ein Drittel des Haushalts. Das Verhältnis von Menschen im Rentenalter zur Erwerbsbevölkerung wird von 36% im Jahr 2019 auf voraussichtlich 52% 2040 steigen, was hohe Anforderungen an die Sozialversicherungen stellt. Nachhaltige öffentliche Finanzen sind daher darauf angewiesen, dass möglichst viele Menschen in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu bestreiten und ihren Ruhestand zu finanzieren. Heute sind jedoch über 10% der Erwerbstätigen nur geringfügig beschäftigt, 22% verdienen 11,05 Euro oder weniger und 6% sind dauerhaft auf Sozialleistungen angewiesen.
Wie könnte eine neue deutsche Finanzpolitik aussehen, die dieser Zeit und ihren Herausforderungen gerecht wird? Zunächst gilt es, die Zielsetzung der Finanzpolitik anzupassen. Um heute langfristige Nachhaltigkeit zu sichern, sollte die Fiskalpolitik darauf abzielen, (1) die Zahl der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter, die Transferleistungen benötigen, zu reduzieren und (2) das Lohnwachstum zu unterstützen, um den Bedarf an öffentlichen Rentenzuschüssen zu begrenzen. Das Ziel, die Schuldenquote bei 60% zu begrenzen, sollte daher mit dem Ziel der Vollauslastung des Arbeitsmarkts ersetzt werden.
Ein Paradigmenwechsel
Wie könnte nun eine Finanzpolitik aussehen, die dieser neue Zielsetzung gerecht werden kann? Zur Beantwortung dieser Frage greifen wir auf den Paradigmenwechseln zurück, den es in den letzten Jahren in der ökonomischen Analyse von Staatsverschuldung und Fiskalpolitik gegeben hat. Neueste Publikationen, zum Beispiel von Blanchard et al., Südekum und Hüther oder Furman und Summers, argumentieren, dass (1) die Finanzierungskosten von Staatsschulden heute den Staatshaushalt weniger einschränken als in der Vergangenheit, sowohl in der kurzen als auch in der langen Frist; und (2) dass die Fiskalpolitik zur Steuerung der Gesamtnachfrage beitragen sollte, insbesondere um chronische Unterauslastung und wirtschaftliche wie finanzpolitische Vernarbungen in Folge von Abschwüngen zu verhindern.
Generalüberholung der Schuldenbremse
Aufbauend auf diesem Paradigmenwechsel schlagen wir eine Generalüberholung der Schuldenbremse vor. Heute begrenzt die Schuldenbremse das zulässige Haushaltsdefizit des Bundes1 auf 0,35% des BIPs[1], welches allerdings um eine Konjunkturkomponente vergrößert oder verkleinert wird, die mittels der EU-Methode zur Ermittlung des konjunkturbereinigten Haushaltssaldos berechnet wird. Die Schuldenbremse ist Teil der Verfassung, die Definition und Berechnung der Konjunkturkomponente einfachgesetzlich geregelt (siehe Abbildung; für weiteres, siehe unseren Erklärartikel sowie das Glossar Schuldenbremse 101). Ausgenommen sind außerdem finanzielle Transaktionen, d.h. Transaktionen, die einen Tausch von Finanzaktiva beinhalten.
Abbildung: Überblick über die rechtliche und ökonomische Struktur der Schuldenbremse
Unsere Vorschläge setzen an drei Punkten an.
- Erstens: Vollauslastung. Wir schlagen vor, die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse so weiterzuentwickeln, dass der zentralen Rolle eines vollausgelasteten Arbeitsmarkts für nachhaltige Finanzen Rechnung getragen wird. Das schafft schon für das Jahr 2023 — dem ersten, in dem die Schuldenbremse wieder greifen soll — signifikanten fiskalischen Spielraum: circa 70 Milliarden Euro.[2] Dieser sollte genutzt werden, um die Wirtschaft zur Vollauslastung zu bewegen. Die Mehrausgaben würden Nachfrage schaffen, Beschäftigung steigern, das Lohnwachstum unterstützen und damit zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen beitragen. Ebenfalls zu beachten: Dieselbe Weiterentwicklung der Berechnungsmethoden könnte (auf der europäischen Ebene) auf die Konjunkturbereinigung des Haushaltssaldos im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts angewendet werden.
- Zweitens: Investitionen. Wir ergänzen diesen Fokus auf Vollauslastung durch einen Vorschlag zur Sicherstellung ausreichender Investitionen. Diese sind eine zentrale Voraussetzung für Produktivität und sorgen dafür, dass Vollauslastung mit dauerhaften Produktivitätsgewinnen einhergeht. Dabei sollten die Investitionen dort geschehen, wo zurzeit der größte Bedarf besteht: auf kommunaler Ebene.
- Drittens: der richtige Alarm. Um zu verhindern, dass hohe Zinszahlungen den Haushalt belasten, wie zum Beispiel in den 1990er und frühen 2000er Jahren, schlagen wir die Einführung eines neuen Frühwarnindikators vor, der den Anteil der Zinszahlungen am Haushalt überwacht. Dieser Indikator schlägt früher und genauer an als die Schuldenquote, welche durch ihn ersetzt werden sollte.
Damit berücksichtigen unsere Vorschläge die Aspekte Finanzierungskosten, Nachfragesteuerung sowie die Förderung einer produktiven Angebotsseite. Um sicherzustellen, dass die Reformen rasch umgesetzt werden könnten, beinhaltet keine von ihnen eine Änderung des Grundgesetzes. Bleibt nur die Frage, ob die Politik sich traut, ihr Zukunftsversprechen in die Tat umzusetzen, und die ersten Schritte in Richtung einer neuen, nachhaltigen Finanzpolitik zu gehen.
Fußnoten
[1] Einschließlich nach 2011 eingerichteter Sondervermögen.
[2] Dies ergibt sich aus einer Konjunkturkomponente von ca. 60 Milliarden Euro, siehe S. 37 unseres Papiers, plus ein reguläres strukturelles Defizit von ca. 10 Milliarden Euro (0,35% des für 2023 erwarteten BIPs).
Der Dezernatsbrief ist ein zweiwöchentlicher Kommentar zu aktuellen Fragen der deutschen und europäischen Ökonomie. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns und erbitten deren Zusendung an info[at]dezernatzukunft.org
Veranstaltungen:
- Wir freuen uns, heute Abend Sven-Christian Kindler MdB, haushaltspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, begrüßen zu dürfen. Im Rahmen unserer Sonderserie „Reden wir über Geld“ werden mit ihm über das Wahlprogramm der Grünen für die kommende Bundestagswahl reden. Zur Anmeldung geht es hier.
- Am 8.7. wird ihm Carsten Schneider MdB, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, in der gleichen Serie folgen. Mit den anderen demokratischen Parteien sind wir im Gespräch und hoffen bald, weitere Termine in dieser Reihe ankündigen zu können.
- Am Montag hat Philippa einen Vortrag bei den Kritischen Wirtschaftswissenschaftler*innen der FU Berlin gehalten, zum Thema „Drei Perspektiven auf Staatsverschuldung.“ Die Slides gibt es hier.
- Letzten Samstag sprach Philippa bei der Enquete Kommission zur Bremer Klimaschutzstrategie zum Thema Finanzierungsmöglichkeiten auf Landesebene. Es wird zunehmend deutlich, wie groß die Herausforderungen bei der Finanzierung der Dekarbonisierung gerade auf regionaler und lokaler Ebene in den nächsten Jahren sein werden. Große Finanzierungsbedarfe scheinen vor allem bei Wärmenetzen, Gebäudesanierung und dem öffentlichen Nahverkehr zu bestehen. Gleichzeitig sind die Haushalte von Ländern und Kommunen von der Corona Krise gezeichnet. Wir werden dieses Thema weiterverfolgen; falls Ihr oder Sie Berichte oder Erfahrungen aus anderen Ländern und Kommunen mit uns teilen möchtet würde uns das freuen (gerne an info@dezernatzukunft.org).
Veröffentlichungen:
- Das Forum New Economy hat unsere Vorschläge für eine neue deutsche Finanzpolitik veröffentlicht.
- Max und Philippa haben eine Antwort auf Wolfgang Schäubles OpEd in der FT unterzeichnet, welche deutlich macht, wieso uns der Fokus auf Sparsamkeit gerade im europäischen Kontext so viel Sorge bereitet.
- Makronom hat einen Artikel von Max zum Thema nachhaltiges Finanzwesen veröffentlicht. Zusammen mit Philipp Golka erklärt er dort, warum ein Fokus auf mehr Transparenz und bessere Standards alleine nicht ausreichen wird, um Kapitalströme hin zu nachhaltigen Investitionen zu lenken.
- Zu guter Letzt: Wir können es uns nicht verkneifen, noch mal auf das FAZ-Profil von Philippa und dem Dezernat zu verweisen, das vor genau zwei Wochen erschienen ist.
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