14 Ideen für die Zeit nach Corona: Teil 2
Teil 1 der Übersetzung finden Sie hier
Im zweiten Teil der deutschen Übersetzung präsentieren wir vier Vorschläge, wie man das Zentralbankwesen in Europa demokratischer gestalten könnte:
- Das Sekundär-Mandat der EZB stärken
- Preisstabilität neu definieren
- Der Geldpolitik neuen Schub verleihen
- Vertragsänderungen für eine demokratisch legitimierte Geldpolitik
1. Das Sekundär-Mandat der EZB stärken
Rasche und gezielte Interventionen der Europäischen Zentralbank (EZB) haben zu Beginn der aktuellen Krise eine Panik auf den Finanzmärkten verhindert. Damit wurde eine Kreditklemme abgewendet und ein möglicher finanzieller Flächenbrand im Keim erstickt. Doch trotz ihrer erfolgreichen Finanzbrandbekämpfung berücksichtigte und berücksichtigt die Geldpolitik der EZB nicht ausreichend die sozialen und ökologischen Krisen, denen Europa und die Welt im Moment ausgesetzt sind. Denn in ihrem Mandat ist die EZB neben der Preisniveaustabilität dazu verpflichtet, die „allgemeine Wirtschaftspolitik der Union“ zu unterstützen und „zur Verwirklichung der in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union festgelegten Ziele der Union beizutragen“. Dies tut sie bisher kaum.
Um die EZB anzuregen, diese Teile ihres Mandates ernster zu nehmen, wäre es den Institutionen der Eurozone sowie der EU möglich, die „allgemeine Wirtschaftspolitik der Union“ klarer zu definieren sowie die verschiedenen Ziele aus Artikel 3 zu priorisieren. Bisher wurde von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch gemacht. Dabei könnte eine solche Konkretisierung einen großen Beitrag zur Demokratisierung von Zentralbankpolitik leisten, indem der EZB klarer gesagt wird, was laut ihrem Mandat von ihr erwartet wird.
Die Eurozone könnte einen offenen und regelmäßig stattfindenden Prozess auf höchster politischer Ebene einleiten, um eine solche Konkretisierung vorzunehmen. Art. 11 (AEUV) verlangt bereits jetzt, dass sämtliche Politik der Union den Umweltschutz im Blick behält. Eine weitere Präzisierung dessen, was Umweltschutz in Bezug auf das Portfolio der Zentralbank – das wesentlich größer ist als Zinspolitik – bedeutet, stünde daher klar im Einklang mit dem Geist der Verträge.
Obgleich dieser Vorschlag vor allem auf die Konkretisierung des Sekundärmandates als demokratischen Prozess abzielt, könnte ein erster Schritt seiner Umsetzung darin bestehen, die EZB zur Unterstützung einer Europäischen Investitionsbehörde, z.B. der EIB oder einer neuen Institution nach dem Vorbild der US-Amerikanischen Reconstruction Finance Corporation aus dem New Deal, zu verpflichten. Konkret würde dies bedeuten, dass die EZB die Anleihen einer solchen Institution als Sicherheiten annimmt, gegen die sich Banken bei der EZB Geld leihen könnten, um die Institution so vom Druck privater Marktakteure wie Rating-Agenturen oder Investoren abzuschirmen. Dies erfordert keine Käufe auf dem Primärmarkt, sondern lediglich das Aufrechthalten einer Zinsobergrenze auf dem Sekundärmarkt.
Darüber hinaus sollte die EZB den Mythos der Marktneutralität aufgeben und die Umsetzung der Geldpolitik so ausrichten, dass nachhaltige Investitionen gefördert werden. So könnte sie ihre Wertpapierkäufe und bestehende Portfolios „vergrünen“, grüne TLTROs vergeben und, sobald die Taxonomie der Europäischen Kommission zur nachhaltigen Finanzwirtschaft um eine negativ Liste erweitert wurde, klimaschädliche Investitionen als höher- oder Hochrisikopositionen beurteilen.
2. Preisstabilität neu definieren
Die von der Corona-Pandemie verursachte Unsicherheit auf den Geld- und Kapitalmärkten hat zu immensen Zentralbankenankäufen und anderen Interventionen auf ebendiesen geführt. Während an bestimmten Instrumenten quantitative und qualitative Änderungen vorgenommen wurden, haben die Zentralbanken dabei im Großen und Ganzen „das Drehbuch von 2008“ angewandt. Doch genau dieses Drehbuch hat dazu beigetragen, im Laufe des letzten Jahrzehnts die Verschuldung im Finanzsystem insgesamt zu erhöhen und Klima- und Ungleichheitsrisiken zu verschärfen, weil Zentralbanken diesen Aspekten nur wenig Bedeutung beimaßen.
Ein Weg, diese Probleme ohne Vertragsänderung anzugehen, ist der folgende: der Maastricht-Vertrag verpflichtet die Europäische Zentralbank, Preisstabilität in der gesamten Eurozone zu erreichen. Zu definieren, was dies in der Praxis bedeutet, bleibt allerdings der Zentralbank selbst überlassen. Zur Zeit interpretiert die EZB Preisstabilität als einen jährlichen Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) von nahe, aber unter zwei Prozent. Die EZB kann und sollte diese Festlegung — die sie selber einführte — grundsätzlich überdenken, um eine einschneidende Austeritätspolitik in Europa zu verhindern, die Verteuerung klimaschädlicher Produkte zuzulassen und Einkommensungleichheiten zu bekämpfen.
Neben Steuern, Wachstum und der Monetarisierung von Staatsschulden ist eine moderat höhere Inflation z.B. eine effektive Möglichkeit, um öffentliche Schuldenlast nach dem Ende Corona-Krise zu reduzieren. Auch wenn Vermögenssteuern, der Kampf gegen Steuerhinterziehung oder der Aufkauf von Staatsanleihen vernünftige Instrumente sind, so wäre es naiv anzunehmen, dass solche Maßnahmen im notwendigen Umfang und in vertretbarer Zeit umgesetzt werden. Darüber hinaus kann die Verwendung eines durchschnittlichen Inflationsziels langfristig das Produktivitätswachstum erhöhen ohne Preisstabilität zu gefährden, indem ein verfrühtes Anheben der Zinsen wie im Jahr 2011 verhindert wird.
Weiterhin berücksichtigt der HVPI in seiner aktuellen Version nicht den ökologischen Fußabdruck seiner Güter. Angesichts der Tatsache, dass höhere Preise für umweltschädliche Produkte und Dienstleistungen wie Benzin, Flugreisen oder Fleisch wünschenswert sind, dürfte eine Ökologisierung des HVPI das Preisstabilitätsmandat entschärfen und es gleichzeitig besser mit dem sekundären Ziel der EZB in Einklang bringen. Dabei ist es wichtig mit anderen Mitteln sicherzustellen, dass die zu erwartende Verteuerung des Lebens im ländlichen Raum sowie für ärmere Haushalte abgefedert wird.
Mit Blick auf die Stärkung der Einkommen privater Haushalte und ihrer künftigen wirtschaftlichen Resilienz erscheint es außerdem sinnvoll, neben oder anstatt der Verbraucherpreise eine Lohnsummenuntergrenze in Betracht zu ziehen – im Einklang mit derartigen Vorschlägen aus den USA.
3. Der Geldpolitik neuen Schub verleihen
Staatliche Notfallkreditprogramme gehörten zu den wichtigsten Instrumenten zur Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen während der Corona-Krise. Beispiele sind das PPP in den USA, CBILS im Vereinigten Königreich, KfW-garantierte Darlehen in Deutschland oder BPI-gesicherte Kredite in Frankreich. Doch obwohl die meisten Staaten schnell dazu übergingen, 100% der förderfähigen Kredite zu garantieren, blieben die Banken bei der Darlehensvergabe oft zögerlich.
Ähnliche Probleme während der Finanzkrise ab 2008 wurden durch gezielte längerfristige Refinanzierungsprogramme (TLTROs) in der Eurozone und das Funding for Lending Scheme (FLS) in Großbritannien adressiert. Diese Programme machten die Bereitstellung von frischem Geld für Banken davon abhängig, wie aktiv sich diese in der Kreditvergabe zeigten. Dieser Ansatz erzielte seine Wirkung, aber er stützt sich auf die Funktion von Banken als (offensichtlich fehleranfälligen) Treibern monetärer Transmission. Aus diesem Grund konnten Kreditklemmen im März und April 2020 nicht gänzlich verhindert werden.
Eine mögliche Lösung dieses Problems für die Zeit nach Corona könnte wie folgt aussehen. Die EZB und andere Zentralbanken stellen allen interessierten Bürger:innen, Einwohner:innen, Unternehmen und Gebietskörperschaften (z.B. Kommunen) ein einfaches Einlagenkonto zur Verfügung, das analog zu normalen Bankkonten bei Geschäftsbanken funktioniert. Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes können durch geeignetes Design und sichere Datenspeicherung gelöst werden. Zusammen mit einer App und Debitkarten, die Zahlungen auf und Überweisungen von diesen Konten ermöglicht, wäre dies ein Schritt in Richtung einer universell zugänglichen, digitalen Zentralbankwährung (CBDC).
In der Krise kann diese Infrastruktur genutzt werden, um Unternehmen und Haushalten direkt Mittel bereitzustellen, ohne dabei auf Banken als Vermittler angewiesen zu sein. Obwohl eine direkte Vergabe von Krediten durch die Zentralbank – eine technisch anspruchsvollere Aufgabe – in großem Umfang und in normalen Zeiten nicht realistisch ist, könnte diese Infrastruktur kurzfristig zur Notfallkaufkraftunterstützung eingesetzt werden. Umgekehrt könnten bei einer Straffung der Geldpolitik die Zinssätze für diese Konten erhöht werden, um das Sparen gegenüber dem Konsum zu fördern, ohne dass die Gefahr besteht, dass höhere Zinssätze nicht an die Sparer weitergegeben werden.
Dieser Vorschlag würde nicht nur die Transmission der Geldpolitik verbessern, sondern auch die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Zahlungssystems erhöhen. Denn Haushalte und nichtfinanzielle Unternehmen wären nicht länger exklusiv auf Geschäftsbanken als Liquiditätsversorger und Zahlungsabwickler angewiesen. In künftigen Krisen, ähnlich der Covid-19-Pandemie oder der Finanzkrise von 2008, könnten dann große Teile des Zahlungssystems isoliert und ihre Funktionsfähigkeit erhalten werden, ohne dass dafür zwangsläufig insolvente Banken gerettet werden müssten.
4. Vertragsänderungen für eine demokratisch legitimierte Geldpolitik
Zu Beginn der Corona-Krise zeigte sich die Europäische Zentralbank fähig und entschlossen schnell zu handeln um Finanzmärkte zu stabilisieren, insbesondere den Markt für Staatsanleihen. Als rechtlich unabhängige Institution war sie in der Lage, schneller zu reagieren als die anderen, durch mehr oder weniger demokratische Entscheidungsprozesse bestimmten EU-Institution. Doch bleibt Geldpolitik von Natur aus politisch und hat eine elementare, verteilungs- und machtpolitische Wirkung, wie das PSPP Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Mai 2020 verdeutlichte. Es ist daher problematisch, dass die EZB keinem gewählten oder anderweitig direkt demokratisch legitimierten Organ gegenüber rechenschaftspflichtig ist.
Nach Corona könnten über eine Vertragsänderung drei Reformen eingeführt werden, um dieses Demokratiedefizit zu beheben, ohne die operative und technische Expertise, die die EZB in den letzten Jahrzehnten aufgebaut hat, zu schmälern.
Erstens könnte das Mandat der EZB mit einer Verfallsdatumsklausel versehen werden, laut der das jeweilige Mandat nach zehn Jahren automatisch ausläuft. Zwar sind schriftliche Mandate entscheidend, um operationelle Unabhängigkeit mit demokratischer Legitimität zu verbinden. Aber die Zeiten ändern sich, Volkswirtschaften wandeln sich, und schriftliche Mandate werden im Laufe der Zeit von Expert:innen und Richtern neu ausgelegt. Infolgedessen ist es nicht überraschend, dass sich das de facto geltende Mandat im Laufe der Zeit von dem Mandat entfernt, das sich der Souverän der Zentralbank — sprich die Bevölkerung — wünscht. Gegenwärtig erfordert eine Änderung des EZB-Mandats die Zustimmung von 68 verschiedenen politischen Organen, darunter alle Mitgliedstaaten der Währungsunion. Angesichts der teils widerstreitenden Interessen dieser Länder wird eine Vertragsänderung nur schwer zu erreichen sein. Eine Verfallsklausel würde die Möglichkeit bieten, einmal pro Jahrzehnt darüber zu beraten, ob das bestehende Mandat nach wie vor gewünscht ist.
Zweitens sind nicht nur die im Mandat der EZB festgeschriebenen Ziele der Geldpolitik politisch, sondern auch ihre Instrumente. Der Werkzeugkasten der EZB, einschließlich ihrer operationellen Ziele und der Vorgaben, wie sie erreicht werden sollen, ist formbarer als das Mandat und könnte in einem Fünfjahresrhythmus überprüft werden. Da die Zentralbank weiterhin in der Lage sein muss, schnell auf Krisen zu reagieren, muss sie weiterhin neue Instrumente einführen dürfen, wenn dies angebracht erscheint. Diese könnten jedoch ein Verfallsdatum besitzen, das zwei Jahre nach ihrer ersten Einführung eintritt, sofern sie nicht innerhalb dieses Zeitraums ratifiziert wurden.
Drittens muss die Überarbeitung sowohl des Mandats als auch des Instrumentariums von einem Gremium überwacht werden. Zu diesem Zweck könnte ein Europarlament geschaffen, gewählt oder nach dem Lotterieprinzip ausgewählt werden, entweder aus dem Volk selbst oder aus den Reihen der nationalen Parlamentarier. Dieses Parlament, das von einem Beamtenapparat unterstützt werden müsste, der den Parlamentariern fachlichen Input liefern würde, würde die Eurogruppe ersetzen, den EZB-Rat ernennen sowie die zehn- bzw. fünfjährigen Revisionen des EZB-Mandats und des Toolkits durchführen. Es könnte auch den Platz der Eurogruppe in Entscheidungen über Memoranden, Verträge, Rettungsaktionen und Bail-Ins einnehmen. Um sicherzustellen, dass ein Europarlament alle Europäer:innen vertritt, könnten bei der Auswahl seiner Mitglieder Quotenregelungen angewandt werden.
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