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26. Februar 2022
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Florian Kern

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Geldbrief

Zinsaufschläge sind das Ergebnis (geld-)politischer Entscheidungen

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Florian Kern

Der nachfolgende Text ist vor dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine entstanden. Die Aggression Putins auf europäischem Boden ist eine Zäsur, die auf grausamste Weise unterstreicht, wie wichtig Geschlossenheit innerhalb der Europäischen Union ist.

In der Debatte um Zinsaufschläge für Staatsanleihen einiger Mitgliedsstaaten wird gerne die These vorgetragen, Zinsaufschläge seien eine natürliche Antwort des Marktes auf exzessive Verschuldung und ein unverzichtbares Disziplinierungsinstrument. Wir zeigen, dass Zinsaufschläge in monetär souveränen Staaten – unabhängig vom Schuldenstand – nicht existieren und ansonsten einer soliden Haushaltsplanung im Weg stehen. Selbst in der Eurozone sind Zinsaufschläge nicht etwa die logische Konsequenz eines 1992 in Maastricht durchdeklinierten Ordnungsrahmens. Ohne eine kaum beachtete und 2005 getroffene EZB-Ratsentscheidung zur Änderung des geldpolitischen Handlungsrahmens hätten Zinsaufschläge womöglich nie die Rolle in der fiskalpolitischen Koordinierung gespielt, die ihnen manche nun zuschreiben. Schließlich plädieren wir dafür, gegenüber unseren europäischen Partnern wieder auf Vertrauen und gemeinsame Regeln zu setzen und die Abschreckungslogik für Konflikte über fundamentale Wertedifferenzen zu reservieren.

Deutschland war Heinrich-Hoffmann-Land. Die Geschichten des revolutionären Psychiaters, der sich „mutig und erfolgreich für eine bessere Behandlung psychisch Kranker einsetzte“, waren zumindest bis in die 80er Jahre extrem beliebt, um Wohlverhalten bei Kindern anzutrainieren. Die Moral von Hoffmanns Geschichten ist meistens die Gleiche: Wer nicht hören will, muss fühlen, – so etwa beim Daumenlutscher, dessen Daumen zur Strafe vom Schneider abgeschnitten werden, nachdem er trotz Verbot an ihm nuckelt oder auch beim Suppen-Kasper, der schlicht verhungert, nachdem er seine Suppe nicht essen will.

Abbildung 1: Heinrich Hoffmanns Geschichte vom Daumenlutscher

Quelle: Heinrich Hoffmann – Die Geschichte vom Daumenlutscher

Heutzutage findet man hingegen immer weniger Menschen, die ihren Kindern, die sie lieben, mit Angst, Abschreckung und Strafe im Sinne Hoffmanns erziehen wollen. Niemand würde argumentieren, dass „Angst, Abschreckung und Strafe“ eine gute Strategie in Beziehungen darstellt. Umgekehrt gibt es jedoch Herausforderungen, die ohne Abschreckung kaum zu bewältigen sind: Hätte die Ukraine keine Armee, mit der sie sich wehren kann, wäre sie längst kein souveräner Staat mehr. Könnte sich Israel nicht gegen Angriffe von Außen verteidigen, würde es nicht mehr existieren.

Wie blicken wir auf unsere europäischen Partner?

Ob Angst, Abschreckung und Strafe als Strategie angemessen sind, hängt also zentral von unserem Gegenüber und dessen und unserer Zielsetzung ab. Mit Blick auf Europa stellt sich also die Frage, ob wir die anderen Mitgliedsstaaten in Europa als Partner begreifen, mit denen wir ein gemeinsames Ziel teilen und Regeln des Zusammenlebens definieren können, auf deren Einhaltung wir grundsätzlich vertrauen; oder ob es nur um Verhinderung von Schlimmerem geht, wir unseren Partnern grundsätzlich eher misstrauen und darauf setzen, diese mit schmerzhaften Abschreckungsmaßnahmen vor grobem Fehlverhalten zu bewahren.

Die letztgenannte Strategie zeigt sich in der Debatte um Zinsaufschläge für Mitgliedsstaaten, in der regelmäßig unterstellt wird, Zinsaufschläge seien ein „Sanktionsmechanismus des Marktes“. Wird dieser „Sanktionsmechanismus“ ausgestellt, geht die „Markdisziplin“ verloren und Fehlverhalten wäre vorprogrammiert. Ganz nach dem Motto: Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Die Aufregung bei dem Thema ist Grund genug uns einmal genauer anzusehen, wie es zu Zinsaufschlägen kommt und ob sie zu Stabilität und Wohlstand in Europa beitragen.

Was sind Zinsaufschläge und wo kommen sie her?

Zinsaufschläge werden in Relation zu risikofreien Zinsen gemessen. Die risikofreien Zinsen wiederum sind die marktimpliziten Erwartungen der kurzfristigen Zinsen in einer Währung. In allen großen Währungen können Investoren am Markt Finanzprodukte handeln, um sich gegen Zinsänderungen abzusichern. Wenn etwa eine Bank einem Häuslebauer einen Kredit zu einem fixen Zinssatz anbietet, dann ist ihr Kapital für eine längere Laufzeit zu diesem Zinssatz gebunden. Würden die Zinsen nun deutlich steigen, müsste sich die Bank teurer refinanzieren, würde aber immer noch nur den vertraglich festgelegten Zinssatz erhalten. Um dieses Zinsänderungsrisiko zu reduzieren, könnte die Bank bei Abschluss des Immobilienkreditvertrags einen sogenannten Zinsswap kaufen, sodass die Bank dem Verkäufer des swaps einen fixen Zinssatz über die Laufzeit zahlt, während der Verkäufer der Bank einen variablen Zinssatz zahlt – so wäre die Bank gegen Zinsänderungen abgesichert.

Der Markt für Zinsswaps ist sehr groß und so kann man täglich beobachten, was man gerade bezahlen muss, wenn man etwa 10 Jahre lang die dann geltenden kurzfristigen Zinssätze erhalten möchte. Dieser Preis gilt als die marktimplizite Zinserwartung. Aktuell wären das etwa ziemlich genau 0% pro Jahr. Da die kurzfristigen Zinsen aktuell bei -0,5% liegen, geht der Markt also implizit davon aus, dass die Zinsen steigen (sodass im Schnitt ein Zins von 0% über die nächsten 10 Jahre zu erwarten wären).

Abbildung 2: Marktimplizite Zinserwartungen in EUR[1]Solche Zinsswaps gibt es in jeder Währung. „Zinsaufschläge“ kann man also relativ einfach aus der Differenz der (am Markt beobachtbaren) laufenden Verzinsung einer beliebigen Anleihe zu den risikofreien Zinssätzen aus den Zinsswaps berechnen. Auch auf Staatsanleihen sind manchmal Zinsaufschläge fällig.

Das kann gerade in der Eurozone zum Problem werden, weil steigende Zinsaufschläge in einzelnen Mitgliedsstaaten bedeuten, dass die Geldpolitik nicht überall ankommt. Geldpolitik funktioniert durch ihren Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Wenn die Wirtschaft nicht ausgelastet ist, können Zinssenkungen zu einer stärkeren Nachfrage beitragen, was zu einer größeren Nachfrage nach Arbeitern führt und so erhöhte Arbeitslosigkeit bekämpft. Zinsaufschläge für Mitgliedsstaaten konterkarieren jedoch dieses Anliegen: Sie senken den fiskalischen Spielraum, den ein Mitgliedsstaat innerhalb der geltenden Fiskalregeln hat und sie führen für die Unternehmen und privaten Haushalte im jeweiligen Mitgliedsstaat ebenfalls zu erhöhten Finanzierungskosten. Die Zinssenkung kommt dann in diesem Mitgliedsstaat nicht an, die Wirtschaft wächst langsamer und die Arbeitslosigkeit bleibt hoch. Dauerhaft hohe Zinsaufschläge machen es für Staaten auch wesentlich schwerer, hohe Schulden abzubauen. Die folgende Grafik zeigt, wie sich Italiens Schuldenquote in Abhängigkeit des Zinsaufschlags entwickeln könnte:  

Abbildung 3: Entwicklung der italienischen Schuldenquote in Abhängigkeit von Zinsaufschlägen bei einem unterstellten Primärdefizit von 1% des BIP pro Jahr

Fallbeispiel: Wie hoch sind die Zinsaufschläge für Staaten?

Die folgende Darstellung zeigt jeweils die Entwicklung der Verschuldungsquote und der Zinsaufschläge für 10-jährige Staatsanleihen in heimischer Währung für die USA, das Vereinigte Königreich, Japan und Italien (für Italien ist zusätzlich die Differenz zu Bundesanleihen aufgezeigt). Man kann erkennen, dass die Verschuldungsquote in allen Staaten seit 2010 gestiegen ist. Wären Zinsaufschläge ein universeller Sanktionsmechanismus für hohe Verschuldung, müssten die unruhigere Zeitreihe in jedem Bild nach unten rechts abtauchen und passend zur höheren Verschuldung höhere Zinsaufschläge signalisieren.

Abbildung 4: Zinsaufschläge in den USA, im Vereinigten Königreich, Japan und Italien im VergleichDas ist jedoch nicht der Fall. Obwohl die Verschuldung in allen Staaten deutlich gestiegen ist, gibt es in den USA, dem Vereinigten Königreich und Japan keine Zinsaufschläge. Überraschend ist das jedoch nur auf den ersten Blick. In Staaten, in welchen die Zentralbank und die Regierung auf der gleichen Ebene sind, würde die Zentralbank niemals zulassen, dass die eigene Regierung insolvent wird.[2] Entsprechend müssen Regierungen, die sich in eigener Währung verschulden, nie relevante Zinsaufschläge zu den Zinserwartungen zahlen.[3] Für Italien sieht das komplett anders aus. Die Skala der Zinsaufschläge für Italien ist auch nicht in Zehntel Prozentpunkten, sondern in vollen Prozentpunkten dargestellt. Obwohl Italien 2012 eine geringere Schuldenquote hatte als die USA heute, musste es in der Spitze fast sechs Prozentpunkte Zinsaufschlag bezahlen. Der auch heute mit 1,5 Prozentpunkten sehr hohe Zinsaufschlag Italiens ist jedoch kein aus seiner Verschuldungsquote abgeleitetes Naturgesetz, sondern Ergebnis politischer Entscheidungen in der Eurozone. Würde hierzulande eine Zentralbank ähnlich wie die Fed zu Beginn der Coronapandemie im März 2020 die Zinsaufschläge Italiens praktisch deckeln, würden sie nicht existieren.

Zinsaufschläge als Preis des Vertrags von Maastricht?

Ist man in der Debatte bereits so weit, dass Zinsaufschläge eben kein Naturgesetz sind und in monetär souveränen Staaten auch unabhängig von der Verschuldungsquote des Staates schlicht nicht existieren, wird häufig mit dem Finger auf den Vertrag von Maastricht gezeigt: Alle Mitgliedsstaaten, deren Währung der Euro ist, hätten diesen Vertrag doch unterzeichnet, und Art. 123 „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“, der in Maastricht eingeführt wurde, verbiete die monetäre Staatsfinanzierung durch die EZB. Entsprechend wäre zwar theoretisch eine Welt möglich, in der eine europäische Zentralbank Zinsaufschläge verhindert, aber man habe sich nun mal 1992 in Maastricht auf einen anderen institutionellen Rahmen geeinigt, sodass eine Abweichung von diesem Rechtsbruch darstelle.

Diese Argumentation hat eine zentrale Schwachstelle: Sie stellt schlicht die Geschichte der Währungsunion falsch dar. Erkennbar ist dies schon, wenn man den Delors-Report liest, der vom damaligen Präsidenten der Europäischen Komission, Jacques Delors 1988 vorgelegt wurde und einen Fahrplan für die Errichtung einer gemeinsamen Währung enthielt. Der Delors Report erklärte explizit, dass man sich nicht auf die disziplinierende Wirkung der Finanzmärkte verlassen könne, da diese häufig erratisch reagieren (und schlug stattdessen fiskalische Regeln vor, deren Einhaltung die Kommission überwachen sollte):

Abbildung 5: Ausschnitt aus dem Delors-Vertrag zu Marktdisziplin:

„Marktdisziplin“ war daher auch kein Gründungselement der Währungsunion. Das kann man auch daran erkennen, dass vor der Finanzkrise 2008 praktisch keine Zinsausschläge existierten (siehe Abbildung 2). Erst als 2008 der Frust (zurecht) besonders groß war, dass Steuerzahler für die Risiken von Investoren aufkommen mussten, um ein Zusammenbrechen der Finanzmärkte mit anschließender Wirtschaftskrise wie 1929 zu verhindern, wollte man einen erneuten bail-out – dieses Mal der Staaten – auf jeden Fall verhindern. Während zunächst Zinsaufschläge in Griechenland rasant anstiegen, das tatsächlich in den Jahren zuvor mit hohen Defiziten auffiel und dessen damalige Regierung beim Beitritt in die Währungsunion Statistiken fälschte, schlug das Problem daraufhin in Irland, Italien, Portugal und Spanien auf, die in den Jahren zuvor keinesfalls Schuldenparties feierten.

Dass es in diesen Staaten überhaupt zu Zinsaufschlägen kommen konnte, ist jedoch nicht einem auf Marktdisziplin vertrauenden Vertrag von Maastricht zu verdanken, sondern hängt auch an einem historischen Zufall, auf den der niederländische Ökonom Jens van’t Klooster hinwieß:

Van’t Klooster geht darauf ein, dass das Eurosystem (EZB + nationale Zentralbanken) eigenständig festlegt, welche Sicherheiten es annimmt, wenn es Kredite vergibt und welche Abschläge es hierfür verlangt (das Eurosystem setzte seine Geldpolitik vor der Finanzkrise um, indem es Kredite zum geldpolitisch gewünschten Zinssatz gegen Sicherheiten ausgab). Über diesen Mechanismus kann das Eurosystem festlegen, welche Anleihen als sicher gelten: Wenn das Eurosystem Staatsanleihen unbegrenzt als Sicherheiten ohne relevante Sicherheitsabschläge annimmt, dann könnten Banken diese unbegrenzt ankaufen und die Käufe immer beim Eurosystem finanzieren – ein höherer Zinsaufschlag auf eine Staatsanleihe würde daher sofort von einer Bank als Chance gesehen, einen Gewinn zu erzielen und Zinsaufschläge würden gar nicht erst aufkommen.

Eine folgenschwere Entscheidung

1996 debattierten die europäischen Zentralbanken mit der Vorgängerinstitution der EZB, dem Europäischen Währungsinstitut, ob man Staatsanleihen nur bis zu einer gewissen Ratinguntergrenze als Sicherheit akzeptieren solle. Die Bundesbank lehnte dies damals ab, da sie die Entscheidung darüber, ob Staatsanleihen als Sicherheit akzeptiert werden, als Teil der “Souveränität des Eurosystems” begriff und diese nicht „einigen profitorientierten Ratingagenturen“ überlassen wollte. Außerdem kritisierte eine Minderheit an Zentralbankern, dass die Methoden der Ratingagenturen nicht überzeugend seien. Allerdings wurde die von der Bundesbank angeführte Minderheit von den anderen nationalen Zentralbanken überstimmt, denen ein alternativer und von der Bundesbank vorgeschlagener Ansatz zu kompliziert erschien.[4] Als Kompromiss wurde festgelegt, dass Staatsanleihen zukünftig ein Mindestrating aufweisen müssen. Jedoch wurde dies so niedrig festgelegt, dass kein Staat auch nur ansatzweise betroffen war und es wurde entschieden, dieses nicht zu veröffentlichen, um die Märkte nicht zu verunsichern (was zeigt, dass die Zentralbanken kein Signal geben wollten, dass Staatsanleihen in der Eurozone ausfallen könnten). Als jedoch 2005 die Debatte hochkochte, ob die Staaten der Eurozone (allen voran Deutschland) den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgrund zu hoher Defizite ignorierten, entschied sich der EZB-Rat, also das oberste Entscheidungsgremium des Eurosystems, zur Veröffentlichung seiner bislang geheimen (und entsprechend ohne politisches Aufsehen zu ändernden) Ratinganforderungen. Die Veröffentlichung war als Zeichen gedacht: Würden Staaten dauerhaft schlecht haushalten, könnten die Defizite nicht mehr beim Eurosystem finanziert werden. Welche Konsequenzen diese Entscheidung haben sollte, war zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht absehbar. Mit der Veröffentlichung der Ratinguntergrenzen wurde zum ersten Mal bekannt, dass das Eurosystem europäische Staatsanleihen als potenziell riskant ansieht – warum sonst würde man Mindestratings für Staatsanleihen als Sicherheiten festlegen?

Diese Entscheidung setzte eine unbewusste Kettenreaktion in Gang. Als in der Finanzkrise die Verschuldung einiger Staaten stieg und Ratingagenturen wegen zu laxen Ratings von Finanzprodukten in der Kritik standen, wurden die Ratings europäischer Staaten nach unten hin angepasst. Als erste Investoren bemerkten, dass bei Unterschreitung eines Mindestratings Anleihen nicht mehr als Sicherheiten genutzt werden könnten und dass dieses Mindestrating für einige Staaten gefährlich nahe lag, verkauften sie die entsprechenden Anleihen und Zinsaufschläge entstanden, welche wiederum in Ratingagenturen Druck erzeugten, ihren erheblichen Spielraum noch kritischer zu nutzen und Ratings weiter herabzusetzen.

Man kann in sozialwissenschaftlichen Fragestellungen nie mit Sicherheit beantworten, wie die Welt aussähe, wenn eine Maßnahme nicht getroffen worden wäre, aber es spricht viel dafür, dass Zinsaufschläge nicht die Ansteckungswirkung entfaltet hätten, die sie haben, hätte das Eurosystem sich 1996 für den Vorschlag der Bundesbank entschieden und externe Ratings nicht für die Entscheidung herangezogen, zu welchen Konditionen man Staatsanleihen aus der Eurozone als Sicherheit anerkennt. Der EZB-Rat hätte im Fall von Griechenland bei stetig steigenden Schulden sicher agiert, alleine schon, weil entsprechender politischer Druck bei steigenden Defiziten und Bekanntwerden der Beitrittsgeschichte Griechenlands entstanden wäre.[5] Dass dieser Druck aber in gleicher Weise in Spanien, Irland und Portugal (und zukünftig eventuell in Italien) entstanden wäre, wo mit Ausnahme zu Zeiten der Bankenkrise und während der Covid-Krise im Primärhaushalt (vor Zinsen) kaum Defizite gemacht wurden, kann ruhig bezweifelt werden (siehe die folgende Grafik).

Abbildung 6: Italien ist nicht Griechenland

Was heißt das für die Zukunft?

Zinsaufschläge sind weder eine automatische Marktreaktion auf zu hohe Defizite, noch wurden sie bei Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht als Disziplinierungsinstrument vorgesehen. Dass Sie überhaupt in der Eurozone in diesem Ausmaß auftreten konnten, ist sehr wahrscheinlich eine Entscheidung des EZB-Rats zuzurechnen, bei deren Entschluss man seine Tragweite nicht absehen konnte.

Eine Währungsunion ist wie eine Ehe: Es ist eine Schicksalsgemeinschaft, die ohne fiskalische Koordination nicht funktioniert. Wer aber immer den anderen kontrollieren möchte und auf Sanktionsmechanismen setzt, um den anderen zu Wohlverhalten zu zwingen, der wird keine erfolgreiche Partnerschaft führen. Im Jahr 2022 sollte uns als Europäern klar werden, dass in Rom und Paris (und in den anderen Hauptstädten der Union) unsere Freunde sitzen. Bei diesen auf Bestrafung zu setzen und damit ihre Haushaltskonsolidierung weiter zu erschweren, passt nicht zur partnerschaftlichen Beziehung, die wir anstreben. Abschreckungslogik ist manchmal die ultima ratio und muss in außenpolitischen Fragen auch dann erwägt werden, wenn wir über Staaten sprechen, die unsere Werte nicht teilen. Rom und Paris abschrecken zu wollen, während wir weiter Güter aus Xinjiang beziehen oder Sponsorengelder Gazproms annehmen, sollte nicht die geoökonomische Zielrichtung für die kommende Legislaturperiode sein.


Fußnoten

[1] Die hier zugrundeliegenden Daten sind aus Overnight-Indexed-Swaps entnommen. Referenzzinssatz ist der Übernachtzins (EONIA), der für Übernachtkredite am Markt bezahlt wird. Die OIS-Kurve gilt als risikofrei, da der Kontrahent jeder Vertragspartei ein zentraler Kontrahent ist (in Deutschland etwa die Eurex Clearing) und täglich von beiden Seiten des Swaps Sicherheiten zu stellen sind, wenn sich der Wert des Swaps verändert, sodass bei Ausfall eines Vertragspartners die Sicherheiten genutzt werden könnten, um zu den ursprünglichen Konditionen einen Swap mit einem neuen Vertragspartner abzuschließen.

[2] Wie es in der Praxis funktioniert, wenn Zentralbanken Zinsen kontrollieren, haben wir hier erklärt.

[3] Die geringen und dennoch bestehenden Zinsaufschläge werden i. d. R. durch regulatorische Unterschiede erklärt, vgl.: Schrimpf, A., Shin, H. S., & Sushko, V. (2020). Leverage and margin spirals in fixed income markets during the Covid-19 crisis. Available at SSRN 3761873.

[4] van’t Klooster, J. (2021). Technocratic Keynesianism: a paradigm shift without legislative change. New Political Economy, 1-17.

[5] Griechenland hatte mithilfe von Finanzprodukten, die heute zu Auszahlungen führen und in der Zukunft wahrscheinlich zu Verpflichtungen führen, aber nicht auf das Defizit angerechnet werden, sein an Eurostat gemeldetes Defizit manipuliert und konnte nur so die Beitrittskriterien erfüllen.


Medien- und Veranstaltungsbericht 25.02.2022

  • Wir begrüßen „Our new Economy“ aus den Niederlanden als neuestes Mitglied in unserem European Macro Policy Network. „Our new Economy“ erhält 236.000 EUR an Förderung in diesem Jahr, die wir im Auftrag der Stiftung Open Philantropy weiter reichen dürfen.
  • Florian Kern wurde von Zeit Campus befragt, wie jüngere Menschen von Preissteigerungen betroffen sind.
  • Am 09.03. ab 19 Uhr stellt sich Florian Kern Euren Fragen zum Thema Preisentwicklung bei unserem kommenden Open House Webinar mit einem besonderen Fokus auf die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine und der Energiepreisentwicklung. Weitere Infos und die Einladung folgen über die gewohnten Kanäle. Den Shortcut zur Anmeldung findet Ihr bereits hier.”
  • Am 9.03. um 20 Uhr diskutiert Philippa mit dem Bayrischen Finanzminister, Albert Füracker (CSU), im Café Luitpold in München zum Thema „Staatsschulden – Wachstumsmotor oder süßes Gift?“. Die Veranstaltung wird auch im Livestream übertragen, für den man sich hier registrieren kann.
  • Philippa wurde in einem Bloombergartikel zu den kommenden Herausforderungen für Bundesbankpräsident Nagel und Finanzminister Lindner zitiert.
  • Pola gab ein Interview für die International Labour Organization über die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt.

Der Geldbrief ist unser Newsletter zu aktuellen Fragen der Geldpolitik und der Finanzmärkte. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns und erbitten deren Zusendung an florian.kern[at]dezernatzukunft.org


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