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10. November 2022
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Philippa Sigl-Glöckner

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Geldbrief

London calling: What happened to the gilt market und was lernen wir daraus?

Lesedauer: 9 min
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Philippa Sigl-Glöckner

Die Ereignisse im Herbst 2022 werden Studentinnen und Studenten der politischen Ökonomie wohl noch über Jahre faszinieren: In atemberaubender Geschwindigkeit konnte man den Zerfall der britischen Regierung miterleben, nachdem der Markt für britische Staatsanleihen Ende September historische Ausschläge erlebte. In diesem Geldbrief erklären wir, was seit Mitte September an den Finanzmärkten passiert ist und welche Schlüsse daraus zu ziehen sind.

Die großen Verwerfungen an den Finanzmärkten begannen am Dienstag, den 20. September 2022. Für den Freitag der gleichen Woche war die Ankündigung von Steuersenkungen in einem Umfang von 30-50 Mrd. GBP erwartet. Gleichzeitig sollte die Gaspreisbremse zu Ausgaben in einem Umfang von rund 100 Mrd. GBP führen. Die zusätzlichen Ausgaben, die ohne Gegenfinanzierung bleiben sollten, entsprachen etwa einem Sechstel des Vor-Corona-Haushalts Großbritanniens. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Mel Stride, forderte daraufhin, dass das Office for Budget Responsibility (OBR) einen Bericht zu den Auswirkungen der neuen fiskalpolitischen Strategie vorlegen solle.[1] Der Präsident des OBR, Richard Chair, hatte sich in einem Brief an Stride gewandt und berichtet, man habe eine vorläufige Folgenabschätzung der neuen Maßnahmen erstellt und diese der Regierung angeboten. Die Regierung habe die Einschätzung jedoch nicht annehmen wollen. Finanzminister Kwarteng, der zu diesem Zeitpunkt exakt 14 Tage im Amt war, ließ daraufhin erklären, dass man auch weiterhin nicht an der Einschätzung des OBR interessiert sei und die Fiskalpläne rasch durchzusetzen gedenke.

An den Märkten kam die Mischung aus sehr expansiver Fiskalpolitik in Verbindung mit der Zurückhaltung der Einschätzung eines unabhängigen Gremiums nicht gut an. Die Rendite für 30-jährige britische Staatsanleihen stieg vom 21.09. bis zum 27.09. von 3,58 % auf knapp 5 %. Mitte August hatte sie noch bei 2,5 % gelegen. Die Kurse 30-jähriger Staatsanleihen verloren innerhalb von 6 Tagen über 25 % – einen Einbruch, den man selbst an den Aktienmärkten als veritable Krise erachten würde.

Abbildung 1

Ausfallrisiko war nicht der Preistreiber

Interessant ist dabei: Die Zinsen auf britische Staatsanleihen sind zwar explosionsartig angestiegen – Risikoprämien (die Investoren für den möglichen Ausfall der Staatsanleihe kompensieren) gab es jedoch zu keinem Zeitpunkt. Vergleicht man die Rendite auf 30-jährige Staatsanleihen mit den marktimpliziten risikofreien Zinserwartungen in GBP (SONIA=Sterling Overnight Index Average, OIS=Overnight Indexed Swap), zeigt sich, dass die Differenz zwischen beiden praktisch gleich blieb.[2] Anders gesagt: Die marktimpliziten Zinserwartungen waren zwar ebenso sprunghaft angestiegen, aber niemand am Markt spekulierte auf einen Ausfall Großbritanniens. Anders als in der Eurozone entstehen in einem monetär souveränen Staat wie Großbritannien also keine Risikoprämien – es ist schlicht offensichtlich, dass die Bank of England niemals die eigene Regierung in die Pleite und das Land in seine größte Krise schicken würde. Ein solches Verhalten wäre auch zu jedem Zeitpunkt hoch irrational.

Pensionsfonds zwingen die Bank of England zur Intervention

Um den Treiber der Zinssteigerungen zu verstehen, bedarf es eines Blicks in das Innere der Finanzmärkte. Eine der größten Investorengruppen in langlaufende britische Staatsanleihen (Gilts) sind Pensionsfonds. Pensionsfonds spielen in Großbritannien eine zentrale Rolle, da Arbeitnehmer:innen von ihrem Arbeitgeber automatisch für einen vom Staat zugelassenen Fonds registriert werden, so sie nicht aktiv widersprechen.

Der extreme und schnelle Kursverfall der Gilts wurde zu einem Problem für britische Pensionsfonds, das zu einem Problem für die Finanzstabilität hätte werden können. Pensionsfonds haben langfristige Verpflichtungen (sie müssen über viele Jahre hinweg Renten auszahlen) und kaufen daher langfristige Staatsanleihen. Da britische Pensionsfonds häufig unterfinanziert[3] sind, also weniger Vermögenswerte als Verbindlichkeiten haben, greifen sie gerne auf sogenannte Liability Driven Investment (LDI) Fonds zurück. LDI-Fonds bündeln Einzahlungen vieler kleiner Pensionsfonds, nehmen zusätzliche Kredite auf und investieren sie wiederum in langlaufende Staatsanleihen. Die Pensionsfonds, die viele sehr lang laufende Pensionsverbindlichkeiten haben, erwerben über die LDI-Fonds Ansprüche an sehr lang laufenden Staatsanleihen. Indem die LDI-Fonds dazu beitragen, dass die Laufzeit der Vermögenswerte  ähnlich hoch ist wie die der Verbindlichkeiten der Pensionsfonds, tragen sie normalerweise zu einer Stabilisierung bei.[4]

Der starke und extrem schnelle Kursverfall bei britischen Staatsanleihen führte nun dazu, dass einige LDI-Fonds kurz vor der Zahlungsunfähigkeit standen – ihre Kursverluste waren so hoch, dass ihr Eigenkapital fast aufgebraucht war. LDI-Fondsmanager meldeten sich daraufhin bei der Bank of England und erklärten, dass ein weiterer Kursverfall die LDI-Fonds dazu zwingen würde, Staatsanleihen in einem Umfang von 50 Mrd. GBP notzuverkaufen. Dabei gab es zu dem Zeitpunkt schon kaum willige Käufer. Vielen Investoren ist es aktuell zu unsicher, sehr langfristig in Staatsanleihen zu investieren – es gibt schlicht zu viele offene Fragen, wie sich Inflation und Zinsumfeld entwickeln werden, als dass Investoren in der Masse bereit wären, sich an 30 Jahre laufende Anleihen zu binden. Ein Notverkauf der LDI-Fonds hätte die Renditen wohl komplett explodieren und die Finanzstabilität spiegelbildlich implodieren lassen.

In dieser Situation erklärte sich die Bank of England am 28. September bereit, Staatsanleihekäufe zur Sicherstellung der Marktfunktionalität durchzuführen.[5] Die Reaktion des britischen Pfunds auf die Ankündigung spricht Bände: Hätten Finanzmärkte das Handeln der Zentralbank so wie manche Kommentatoren eingeschätzt, nämlich als Kotau vor einer unverantwortlichen Regierung, hätte man mit einem Absturz des Pfunds rechnen müssen. Das Gegenteil war der Fall.

Abbildung 2

Das Pfund erholte sich von seinen Tiefstständen, da an den Devisenmärkten die Botschaft der Bank of England offenbar angekommen war: Die Bank stand bereit, um das Funktionieren des Staatsanleihemarkts zu garantieren, nicht aber um für eine Lockerung der Finanzierungsbedingungen zu sorgen. Lockerere Finanzierungsbedingungen für den Staat hätten als ein „Gütesiegel“ der Bank of England für ein großes Defizit ausgelegt werden können. Mit einem großen Defizit geht im Fall Großbritanniens ein Leistungsbilanzdefizit einher. Das wiederum führt zu einer schwächeren Währung. All das sah man aber nicht: Als der drohende Ausverkauf der LDI-Bestände in einen wenig liquiden und hochgestressten Markt abgewehrt war, erholten sich sowohl das britische Pfund als auch die Gilt-Renditen.

Was lehrt uns die Periode der Krise am Gilt-Markt?

  1. Ein monetär souveräner Staat, der sich in eigener Währung finanziert, kann sich zwar im Zweifel immer über die Zentralbank finanzieren und hat daher kein klassisches Insolvenzrisiko. Aber insbesondere, wenn er ausländische Investoren anziehen möchte, muss er Investoren gute Gründe dafür bieten. Großbritannien hatte in den letzten Jahren insbesondere im Vergleich zur Eurozone ein hohes Leistungsbilanzdefizit (siehe Abbildung 3).

Abbildung 3

    Die angekündigten zusätzlichen Defizite hätten die Nachfrage nach Importgütern und damit das Leistungsbilanzdefizit erhöht, oder das Pfund wäre eben so stark gefallen, dass die Nachfrage nach Importgütern doch gesunken und die Nachfrage nach Gütern aus Großbritannien gestiegen wäre. Eine Grenze für Verschuldung monetär souveräner Staaten liegt also in der Kapitalflucht bei Wechselkursverfall.
  1. Stabilitätspolitik bedeutet, Krisen abzuwenden. Die Zentralbank ist als Buyer of Last Resort in die Bresche gesprungen, als Investoren aufgrund der Unsicherheit über das künftige Inflationsumfeld und die künftige Makrofinanzpolitik nicht bereit waren in langfristige Laufzeiten zu investieren. So wurde eine von Fire Sales getriebene Abwärtsspirale vermieden. Wäre die Bank of England nicht eingesprungen und hätte die Märkte stabilisiert, hätte das nicht nur zukünftige Renten getroffen, sondern auch die Finanzstabilität und den Ruf Großbritanniens als zuverlässiges Finanzzentrum dauerhaft beschädigt .

Fußnoten

[1] Das OBR ist ein von der Regierung unabhängiges Gremium, das, ähnlich wie das US-amerikanische Congressional Budget Office, die makroökonomischen Auswirkungen fiskalpolitischer Pläne durchrechnet.

[2] Die Differenz zwischen Giltrenditen und OIS-Renditen erklärt sich durch Bilanzkosten. Während Dealer Banken für das Halten von Staatsanleihen aufgrund regulatorischer Vorgaben (leverage ratio) Eigenkapital vorhalten müssen, ist dies für Swaps nur in wesentlich geringem Umfang nötig. Ein gute Erklärung zum Thema findet sich hier ab S. 3.

[3] Ein unterfinanzierter Pensionsfonds bedeutet für das Unternehmen, das den Pensionsfonds bereit stellt, eine attraktive Finanzierungsmöglichkeit. Stellen wir uns vor, ein deutscher Autohersteller hätte einen Pensionsfonds, der die Renten seiner Beschäftigten sichert. Der Autohersteller kann dann entweder Anleihen aufnehmen und Kredite geben und damit Staatsanleihen für den Pensionsfonds erwerben, oder aber er lässt den Pensionsfonds unterfinanziert. Im letzteren Fall spart der Autohersteller im Vergleich zum Referenzfall, da er sich über Anleihen teurer finanzieren würde, als die Rendite auf Staatsanleihen wäre. 

[4] Ausführlich wird dieser Mechanismus ab S. 4 in einem Brief der Bank of England an das britische Unterhaus erklärt.

[5] Dabei handelte es sich auch nicht um einen bail-out für private Investoren, denn insgesamt profitieren die unterfinanzierten Fonds sogar von steigenden Renditen und hatten eine hervorragende Kapitalposition – nur die LDI-Fonds, die ja wiederum Investmentvehikel anderer Fonds waren, hatten kurzfristig Finanzierungsprobleme und standen kurz vor der Abwicklung.


Medien- und Veranstaltungsbericht 10.11.2022

  • Erwähnungen und Zitate:
    • Philippa gibt in einem Twitter-Thread eine erste Einschätzung zu den Plänen der EU-Kommission, die Regeln für den Stabilitätspakt zu verbessern. Die Vorschläge der Kommission sind hier nachzulesen.
    • Philippa kommt in der NDR-Doku Die Krise der Mittelschicht: Viel Arbeit, wenig Geld von Julia Friedrichs zu Wort.
    • In einem Artikel im Makronom vom 8.11.22 zitieren Philipp Heimberger und Bernhard Schütz Berechnungen des Dezernat Zukunft zu Produktionslücke, Konjunkturkomponente und maximal zulässige Nettokreditaufnahme des Bundes im Jahr 2023 im Zusammenhang mit der Schuldenbremse.
    • Am 2.11.22 wurde Janeks Geldbrief über den Inflation Reduction Act (IRA) in der Frankfurter Rundschau zitiert.
    • Philippa und Thomas Losse-Müller sprechen im Podcast 21Staatskunst über das Politische in der Schuldenbremse, Investitionen und öffentliche Haushalte.
  • Veranstaltungen:
    • Am 26.10.22 war Philippa bei den Berliner Gesprächen von Prof. Dr. Alexander Thiele, Jurist und Schuldenbremsenkenner zu Gast. Das Gespräch könnt ihr euch hier anhören.
    • Am 27.10.22 war Philippa in der phoenix runde zu Gast und diskutierte mit Daniel Jeschonowski, Claus Hulverscheidt, und Prof. Michael Eilfort über die Frage: Bazooka, Wumms und Doppelwumms – Wer soll das bezahlen?
    • Am 5.11.22 diskutierte Philippa auf dem SPD-Debattenkonvent mit Kevin Kühnert und Michael Vassiliadis über die Spielregeln des Wirtschaftens und hier erklärt Philippa, was sie von der Veranstaltung mitgenommen hat.
    • Am 10.11.22 diskutiert Philippa ab 18 Uhr im Rahmen eines öffentlichen Twitter-Spaces unter Leitung von Fiscal Future mit Rasmus Andresen und René Repasi über die Position der Kommission zur Reform der Europäischen Fiskalregeln.
    • Am 15.11.22 diskutiert Philippa im Rahmen einer DGB-Veranstaltung über die Verteilungswirkung der öffentlichen Daseinsvorsorge und deren Berücksichtigung in den öffentlichen Haushalten. Informationen über das Event findet ihr hier: Die Verteilungswirkung öffentlicher Daseinsvorsorge | DGB.

Der Geldbrief ist unser Newsletter zu aktuellen Fragen der Geldpolitik und der Finanzmärkte. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns und erbitten deren Zusendung an philippa.sigl-gloeckner[at]dezernatzukunft.org


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