Was kosten unsere Schulden?
Der Gegenwartswert deutscher Staatsschulden
POLA SCHNEEMELCHER, MAX KRAHÉ, PHILIPPA SIGL-GLÖCKNER
Download PDFAngesichts der Corona-Krise und schnell zusammengeschnürten staatlichen Rettungspaketen ist die Diskussion um Chancen und Gefahren von Staatsschulden neu entfacht. Im Mittelpunkt steht hierbei die Schuldenbremse, die 2009 im Grundgesetz verankert wurde und seitdem als unumstößliche Säule fiskalpolitischer Krisenprävention wahrgenommen wird. Gespeist wird die Furcht vor hohen Schuldenständen aus der Angst vor unberechenbaren Refinanzierungskosten und den Erfahrungen der globalen Finanzkrise seit 2008. Zu viele Schulden, so heißt es, würden das Vertrauen der Marktteilnehmer in die staatliche Zahlungsfähigkeit erschüttern.
Doch die heutige Situation stellt sich deutlich anders dar: Die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hat ein bisher einzigartiges Niedrigzinsumfeld geschaffen, sodass sich Staaten nicht nur zu moderaten Preisen refinanzieren können—im Falle Deutschlands verdienen sie durch Negativzinsen sogar an ihren Schulden. Trotz dieser günstigen Voraussetzungen zeigt die aktuelle Diskussion, wie tief die Angst vor öffentlicher Verschuldung greift.
In diesem Papier erklären wir zunächst, wie der Bund sich eigentlich verschuldet (Teil I). Anschließend zeigen wir, dass unsere derzeitige Betrachtung von Staatsschulden — fußend auf der Schuldenstandsquote und dem strukturellen Defizit — wenig darüber aussagt, wie groß die Kosten unserer Schulden tatsächlich sind. Denn die genannten Indikatoren ignorieren die zeitliche Dimension von Verschuldung. Wir schlagen daher mit dem Gegenwartswert einen Indikator vor, das heutige Schulden und morgige Kosten vergleichbar macht und zeigen auf, dass Deutschland einen großen Teil seiner Schulden „geschenkt“ bekommt (Teil II).
1. Wie verschuldet sich Deutschland?
Doch die heutige Situation stellt sich deutlich anders dar: Die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hat ein bisher einzigartiges Niedrigzinsumfeld geschaffen, sodass sich Staaten nicht nur zu moderaten Preisen refinanzieren können — im Falle Deutschlands verdienen sie durch Negativzinsen sogar an ihren Schulden. Trotz dieser günstigen Voraussetzungen zeigt die aktuelle Diskussion, wie tief die Angst vor öffentlicher Verschuldung greift.
Ein Staat kann Geld erhalten indem er Steuern einnimmt, indem er seine Zentralbank anweist, ihm Gelder gutzuschreiben, oder indem er Anleihen am Kapitalmarkt begibt.[1] Weder die erste noch die zweite Option involviert Schulden; sie werden also in diesem Papier nicht diskutiert.
Die dritte Option, das Begeben von Anleihen, geschieht im Falle der Bundesrepublik konkret über die Ausgabe von:
- Bundesanleihen („Bunds“),
- Bundesobligationen („Bobls“),
- Bundesschatzanweisungen („Schätze“),
- unverzinsliche Schatzanweisungen („Bubils“) und
- inflationsindexierte Bundeswertpapiere („ILB“).
Im Folgenden werden primär Bunds betrachtet. Diese machen gut 60% aller ausstehenden Bundeswertpapiere aus (vgl. Abb. 1).
Bunds (vgl. Abb. 2) werden in Einmalemissionen im Rahmen einer Auktion, dem Tenderverfahren, begeben. Dies geschieht auf dem sogenannten Primärmarkt; hier bietet der Emittent — in dem Fall der Bund — den Auktionsteilnehmern Anleihen zum erstmaligen Kauf an. Teilnahmeberechtigt an den Auktionen sind die Mitglieder der Bietergruppe Bundesemissionen, welche zur Zeit 33 Banken umfasst.[2] Banken der Bietergruppe wiederum handeln anschließend ihre überschüssigen Anleihen zum aktuellen Börsenkurs auf dem Sekundärmarkt mit privaten und institutionellen Investoren wie z.B. anderen Kreditinstituten, ausländischen Zentralbanken, Investmentfonds oder Versicherungen.
Grundsätzlich besitzen Bunds eine feste 10- oder 30-jährige Laufzeit. Im Rahmen des durch die Coronakrise gewachsenen Kreditbedarfs wurden 2020 aber erstmals auch Anleihen mit einer 7- und 15-jährigen Laufzeit ausgegeben.
Bunds sind mit einem festen jährlichen Zinssatz (Kupon) ausgestattet und ihre Börsennotierung erfolgt in Prozent des Nominalwerts, dem auf der Anleihe vermerkten Rückzahlungswert. Dieser wird am Ende der Laufzeit, die ebenfalls auf der Anleihe festgehalten wird, vollständig zurückgezahlt.
Während Zinssatz und Nominalwert der Anleihe fix sind, kann ihr tatsächlicher Ausgabepreis von ihrem Nennwert abweichen. Wenn der Ausgabepreis über dem Nennwert liegt, z.B. eine 100€ Anleihe für 102€ ausgegeben wird, spricht man von einem Agio (siehe Abb. 3, z.B. 2012 oder 2016); wenn es umgekehrt ist, dieselbe Anleihe z.B. für 98€ ausgegeben wird, spricht man von einem Disagio (siehe Abb. 3, z.B. 2010 oder 2011). Ein Agio kommt vor allem dann zustande, wenn Investoren in einem Niedrigzinsumfeld sichere Anlegeoptionen suchen und bereit sind, dafür einen Aufpreis zu zahlen.
Für den Bund, der mit seiner hohen Bonität Benchmarktemittent[3] ist und dessen Anleihen vor allem von institutionellen Investoren wie z.B. Versicherungen nachgefragt werden, bedeutet dies zurzeit: Er verdient durch seine Neuverschuldung. Denn durch die hohe Bonität kann er sich zu günstigen Konditionen am Finanzmarkt refinanzieren (vgl. Zinskupon 0%, Abb. 2), gleichzeitig gestattet ihm die Nachfrage einen Ausgabepreis über dem Nominalwert (Abb. 3). Er muss also morgen weniger zurückzahlen, als er heute aufgenommen hat — und in der Zwischenzeit keinen Zins zahlen. Diese Kombination aus 0%-Zinskupon und Ausgabe-Agio bedeutet einen negativen Effektivzins (Abb. 4).
2. Was kosten morgen die Schulden von heute? – Der Gegenwartswert
Soviel zur Mechanik von Staatsanleihen. Wie groß sind die realen Kosten, die die Ausgabe von Staatsanleihen für den Bund schafft? Die fiskalische Situation Deutschlands — insbesondere wie schwer der Bund durch die von ihm ausgegebenen Anleihen belastet ist — wird heute üblicherweise anhand der Schuldenstandsquote und des strukturellen Defizits bewertet. Beides sind Indikatoren, die Schulden lediglich mit dem heutigen Bruttoinlandsprodukt vergleichen.
Doch Schulden und Tilgung haben eine zeitliche Dimension: Bundesanleihen werden erst über einen gewissen Zeitraum zurückgezahlt oder refinanziert; oft nach zehn Jahren, teils erst nach dreißig. Ob die reale Last der Schulden zu diesem Zeitpunkt noch genauso hoch ist wie heute, hängt dabei von Faktoren wie dem BIP-Wachstum, der Inflation und der Zinsentwicklung ab. Wenn sich z.B. das BIP zwischen Ausgabe und Rückzahlung einer Anleihe verdoppelt, Zinsen und Inflation aber bei 0% bleiben, dann muss der Bund, gemessen am BIP, am Fälligkeitstag nur die Hälfte zurückzahlen. Für die Tilgung von Anleihen, die zum Ausgabezeitpunkt 3% des BIPs entsprachen, bräuchte der Bund dann zum Rückzahlungszeitpunkt nur Einnahmen in Höhe von 1,5% des (dann doppelt so großen) BIPs.
Um die Frage zu beantworten, wie viel die Schulden, die wir heute machen, am Ende tatsächlich kosten bzw. wie viel Deutschland „geschenkt“ bekommt, sind die genannten Indikatoren also nur bedingt geeignet. Wir schlagen daher vor, den sogenannten Gegenwartswert als alternativen Indikator heranzuziehen.
Im betriebswirtschaftlichen Zusammenhang beschreibt der Gegenwartswert (auch als Nettobarwert bekannt) den Wert, den künftige Zahlungen oder Einkommen in der Gegenwart, also heute, besitzen.
Die Idee dahinter ist folgende: Geld kann stets verwendet, angelegt oder verliehen werden. Deshalb ist der Wert einer Summe Geld davon abhängig, zu welchem Zeitpunkt man darüber verfügen kann. Bekäme man angeboten, entweder heute 10.000€ oder in fünf Jahren 11.000€ zu erhalten, scheint das zweite Angebot auf den ersten Blick besser —schließlich sind es tausend Euro mehr. Doch diese Beträge sind nicht direkt vergleichbar: über die 10.000€ könnte man sofort verfügen, über die 11.000€ erst in fünf Jahren. Falls man z.B. 2,5% Zinsen auf ein sicheres Sparbuch bekäme, könnte man die 10.000€ dort anlegen und würde in fünf Jahre, mit Zins und Zinseszins, über circa 11.300€ verfügen —die 10.000€ heute wären also real mehr wert als die 11.000€ morgen.
Dieselbe Rechnung kann in die umgekehrte Richtung gemacht werden: So wie die heutige Summe aufgezinst werden kann, um mit einer zukünftigen Zahlung vergleichbar zu sein, kann der künftige Betrag abgezinst (oder diskontiert) werden, um mit einer heutigen Zahlung vergleichbar gemacht zu werden. Dabei errechnet man (in diesem Fall) genau den Betrag, der, wenn man ihn heute zu 2,5% anlegen würde, in fünf Jahren 11.000€ betrüge. So erhält man den derzeitigen Wert einer zukünftigen Zahlung — hier circa 9.700€ — auch bekannt als ihr Gegenwartswert.
In der internationalen Entwicklungszusammenarbeit nutzt der IWF die Berechnung des Gegenwartswerts um die Konzessionalität von Darlehen zu messen. Konzessionäre Darlehen sind Darlehen, die zu günstigeren als den marktüblichen Konditionen vergeben werden. Die Höhe des Darlehens ist dabei dieselbe wie bei einem am Markt aufgenommenen Darlehen, die Zinsen aber oft niedriger und Zins- oder Tilgungszahlungen erst ab einem späteren Zeitpunkt fällig — beides ein grant zum Vorteil des Darlehensnehmers. Dadurch besitzen sie ein sogenanntes „Zuschusselement“ (grant element).
Die Größe dieses Zuschusselements wird berechnet als Differenz zwischen dem Nennwert des Kredits (Nominalwert) und seines Gegenwartswerts (der Summe der abgezinsten zukünftigen Schulddienstzahlungen, die vom Kreditnehmer zu leisten sind). Diese Differenz wird anschließend ausgedrückt als Prozentsatz des Nennwerts des Kredits.
Dieses Verfahren kann im Prinzip auf jede Form von Geldflüssen angewandt werden, bei denen Zeitpunkte und Beträge gut prognostiziert werden können. Bei Diskontierung mit Inflationsraten[4] haben zehnjährige Anleihen (Nennwert: 100€), die heute mit einem Kupon von 0% und einem Preis von 100 € ausgegeben werden, die folgenden Gegenwartswerte: Bei einer Inflation von 2% 82 €, bei einer niedrigeren Inflation von 1% 91 € (vgl. Tabelle 1). Das Zuschusselement beträgt damit im ersten Fall 17,6%, im zweiten 9,4%.
3. Fazit
Abhängig von Inflation und Zinsen können die Kosten, die der Bund für seine Schulden zahlt, also stark variieren. Weder die Schuldenbremse noch die Maastricht-Kriterien zollen dieser Tatsache Achtung. An anderer Stelle kritisieren wir grundsätzlich den Ansatz, fiskalpolitische Entscheidungen nach Finanzkennzahlen auszurichten, anstatt nach realwirtschaftlichen Zielen. Hier zeigen wir: Selbst für sich genommen sind die heute genutzten Finanzindikatoren aussageschwach. Im heutigen Kontext sind die realen Kosten deutscher Staatsanleihen, bei vollständigerer Betrachtung, deutlich niedriger als es auf den ersten Blick scheinen mag. Dies kann sich in Zukunft ändern. Doch so oder so gilt: Eine Neubewertung der Staatsverschuldung durch ein Werkzeug wie den Gegenwartswert wäre ein erster Schritt, um die Kosten öffentlicher Schulden genauer zu verstehen.
Fußnoten
[1] Das Zweite ist das Gelddrucken des Digitalzeitalters. Diese Option hat sich die Bundesrepublik im Rahmen der EU Verträge selbst verwehrt (Artikel 123 des Vertrags über die Funktionsweise der Europäischen Union).
[2] Eine aktuelle Liste wird regelmäßig der Bundesbank veröffentlicht, zuletzt im Januar 2021. Grundsätzlich können alle in der EU, dem EWR oder der Schweiz ansässigen Kreditinstitute und Wertpapierfirmen Mitglied der Bietergruppe werden, solange sie mindestens 0,05% der in einem Kalenderjahr in den Tendern insgesamt zugeteilten Anleihen übernehmen. Anleihen werden dabei nach Laufzeit gewichtet — eine Dreimonatsanleihe fällt mit 0,25 ins Gewicht, eine 30-Jährige mit Faktor 30 — so dass 2019 z.B. der Kauf von knapp 60 Mio. € an 10-Jährigen genügt hätte, um Mitglied in der Bietergruppe zu sein.
[3] U.a. werden die Renditen der Bunds als Zinsreferenz für in Euro denominierte Anleihen genutzt. Gleichzeitig werden Bunds verwendet, um größere Mengen an Währungsreserve in Euro zu halten, sowie als Sicherheiten für kurzfristige Darlehen zwischen Banken am Interbankenmarkt.
[4] Bei der Berechnung des Gegenwartswert von Staatsschulden ergibt die Diskontierung mit Inflationsraten mehr Sinn als mit Wachstumsraten. Steuereinnahmen steigen zwar sowohl mit Wachstum als auch mit Inflation, doch ist Inflation stärker unter staatlicher Kontrolle, so dass besser mit ihr geplant werden kann.
Im Rahmen unseres Fiskalprojekts werden wir ein Konzept für eine zielorientierten Fiskalpolitik entwickeln, die allen dient. Konkret geht es um eine einfachgesetzliche Reform der Schuldenbremse, die nachhaltige Investitionen ermöglicht. Unser fiskalpolitisches Ziel heißt Vollbeschäftigung. Im Laufe der kommenden Monate werden an dieser Stelle Paper mit konkreten Reformvorschlägen zu finden sein. Um über unsere Veröffentlichungen auf dem Laufenden zu bleiben, abonniert gerne unseren Newsletter.
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