Mit Hochdruck zum Erfolg – Gastbeitrag von Jean Pisani-Ferry
Jean Pisani-Ferry ist der Lehrstuhlinhaber des Tommaso Padoa Schioppa Lehrstuhls am European University Institute. Er ist außerdem Senior Fellow bei Bruegel, einem europäischen Think Tank, und Non-Resident Senior Fellow am Peterson Institute (Washington DC), sowie Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Sciences Po (Paris). Im Jahr 2017 trug er zu Emmanuel Macrons Präsidentschaftskandidatur als Direktor für Programmatik und Konzepte seiner Wahlkampagne bei.
In einem Meinungsbeitrag forderte er vor kurzem, mit ordentlich Dampf im Kessel aus der Pandemie zu kommen. Finanz- und Wirtschaftspolitik sollen so lange expansiv bleiben, bis der Arbeitsmarkt zum vor-Pandemieniveau zurückgekehrt ist und der Aufschwung Wurzeln geschlagen hat. Das Risiko, durch verfrühtes Sparen Substanz zu zerstören, sei größer als die Risiken von Inflation oder Staatsverschuldung.
Pisani-Ferrys Beitrag wurde von uns ins Deutsche und Englische (siehe unten) übersetzt, der französische Originaltext wurde Ende März in Le Monde veröffentlicht.
Die vergessenen Tugenden einer Hochdruck-Wirtschaft
Jean Pisani-Ferry
Trotz der Kontroversen über die fiskalische Größe der Biden-Pläne kristallisiert sich derzeit in den USA ein neuer Konsens heraus: Die beste Strategie, um die Folgen der Gesundheitskrise zu bewältigen und die schweren sozialen Probleme des Landes zu lindern, ist, wirtschaftlich für reichlich Dampf im Kessel zu sorgen. Mit anderen Worten: die Wirtschaft durch Nachfrage unter Hochdruck zu setzen.
Diese Idee ist nicht neu. Arthur Okun, ein keynesianischer Ökonom und ehemaliger Berater von US Präsident Lyndon B. Johnson, formulierte sie bereits in den frühen 1970er Jahren. Aber sie ist aktuell: Janet Yellen, ehemalige Fed-Vorsitzende und heutige US-Finanzministerin, brachte sie in einem Vortrag Ende 2019 wieder ins Spiel. Ebenso sichtbar inspiriert das Konzept auch Jerome Powell, den Vorsitzenden der Federal Reserve.
Worum geht es also bei dieser Idee? Seit einem berühmten Vortrag von Milton Friedman aus dem Jahr 1968 fußt die Geld- und Finanzpolitik im Allgemeinen auf der Idee, dass es eine „natürliche Arbeitslosenquote“ gibt, die man nur um den Preis einer steigenden Inflation und den damit einhergehenden wirtschaftlichen Schäden unterschreiten kann. Wenn dieser Schwellenwert erreicht wird, muss das Wachstum also vorsorglich verlangsamt werden, um eine Überhitzung der Wirtschaft zu vermeiden. Dieses vorbeugende Abbremsen wird seit den 1980er Jahren regelmäßig durchgeführt, mit dem Ergebnis, dass sich eine zu niedrige Inflation eingependelt hat, aus der wir seit Jahren nicht herauskommen.
Okuns These – die er im Jahr 1973, wenige Jahre nach dem Vortrag von Friedman, entwickelte – besagt dagegen, dass Fiskalpolitik es auf den Versuch ankommen lassen muss, die Arbeitslosenquote so weit zu senken, dass Arbeitskräfteknappheit herrscht. Dieser Zustand erfordert von Unternehmen einen gewissen Mehraufwand bei der Einstellung und Ausbildung von Fachkräften, bringt aber diejenigen zurück in Beschäftigung, die sonst am weitesten davon entfernt sind: Langzeitarbeitslose, Menschen, die sich ganz vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben, Geringqualifizierte und Minderheiten. Im Erfolgsfall winkt eine doppelte Belohnung: ein erhöhtes Produktionspotenzial – 2 bis 3 Punkte BIP für jeden Punkt Arbeitslosigkeitsreduzierung, sagte Okun – und eine signifikante Besserstellung der am meisten Benachteiligten.
Jenseits des Atlantiks nie ganz in Vergessenheit geraten, ist die Idee heute wieder en vogue. Im letzten Sommer hat die Federal Reserve ihre geldpolitische Strategie überarbeitet. Sie zielt nun darauf ab, den Rückstand der Beschäftigung relativ zu ihrem maximal erreichbaren Wert zu minimieren. Diese explizit asymmetrische Formulierung bedeutet, dass die mit einem zu hohen Beschäftigungsniveau verbundenen Inflationsrisiken als weniger gravierend angesehen werden als die, die durch ein zu niedriges Beschäftigungsniveau befürchtet werden. Powell betonte in seiner Einführung der neuen Strategie explizit die Vorteile eines straffen Arbeitsmarktes für “einkommensschwache Gruppen”, insbesondere ethnische Minderheiten.
Anfang 2020, vor dem Corona-Schock, waren diese Vorteile bereits gut sichtbar. Während die Arbeitslosenquote für Afro-Amerikaner und Personen ohne höheren Bildungsabschluss 2009, im Nachgang der globalen Finanzkrise, fünf Punkte über der durchschnittlichen Arbeitslosenquote lag, betrug dieser Abstand Anfang 2020 nur noch zweieinhalb Punkte. Gleichzeitig stiegen die Erwerbsquoten und die Löhne im unteren Bereich deutlich schneller als im Durchschnitt. Trumps ungezügelte Expansion hatte die von Okun vorhergesagten Effekte bewirkt.
Eine kürzlich erschienen Studie[1] untersucht, ob diese und ähnliche Effekte systematisch auftauchen. Die Ergebnisse unterstützen Okuns These: Nicht nur korreliert die zusätzliche Arbeitslosigkeit, unter der benachteiligte Arbeitnehmer*innen leiden, mit dem Konjunkturzyklus,[2] sondern – viel wichtiger – Episoden, in denen besonders viel Dampf in der Wirtschaft ist, scheinen für sie besonders günstig zu sein. Es könnte sogar sein, dass solche makroökonomische Episoden das Los der benachteiligten Bevölkerungsgruppen nachhaltig verbessern: Es gäbe dann eine positive Hysterese; positiv in dem Sinne, dass eine Person, die durch ein paar Quartale hohen Nachfragedrucks wieder in Arbeit gebracht wird, danach dazu neigt, dort zu bleiben, selbst wenn sich die Situation wieder normalisiert.
Das ist der entscheidende Punkt: Wenn es eine Hysterese bei der Arbeitslosigkeit oder Nichterwerbstätigkeit gibt, haben sowohl Rezessionen als auch Hochdruckepisoden anhaltende (aber nicht ewigdauernde) Auswirkungen auf die Beschäftigung und das Wirtschaftspotenzial. Obwohl oft erwähnt, zum Beispiel von Benoît Coeuré, als er Mitglied des EZB-Direktoriums war, oder von Olivier Blanchard in einem Artikel aus dem Jahr 2018, wurde diese Hypothese nie definitiv bestätigt. Aber sie bleibt hinreichend wahrscheinlich, um die Risiken einer Hochdruckwirtschaft in Kauf zu nehmen.
Dies gilt insbesondere für den Euroraum, bei dem seit langem wenig Druck im Kessel ist. Angst vor Inflation, Furcht vor Defiziten sowie Koordinationsprobleme haben zusammen dazu geführt, dass die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Eurozone regelmäßig das Risiko hoher Arbeitslosigkeit und des Verlustes an wirtschaftlicher Substanz dem der Überhitzung vorzieht. Dies war insbesondere nach 2008 der Fall, mit dem hinlänglich bekannten Ergebnis. Es wäre sträflich, in diesen Trott erneut zurückzufallen.
Die Bedingungen sind reif, um das umgekehrte Experiment zu versuchen. Abgesehen von einigen wenigen Sektoren hat der Corona-Schock unser wirtschaftliches Potenzial wahrscheinlich nicht permanent beeinträchtigt; die Stärke der Erholung im letzten Sommer und die bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit der Unternehmensinvestitionen zeugen davon. Die größte Gefahr ist nicht die Inflation, sondern ein nachhaltiger Rückgang der Inflationserwartungen. Die Zinsen liegen deutlich unter dem Wachstum, was Verschuldung außergewöhnlich günstig macht. Schließlich wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt ausgesetzt, was den Mitgliedsstaaten der Eurozone einen selten dagewesenen Handlungsspielraum gibt.
Eine Hochdruckwirtschaft zu wagen bedeutet nicht, dass wir um jeden Preis expansiv sein müssen. Es würde zunächst ausreichen, wenn sich die Wirtschaftspolitik das durchaus vernünftige Ziel setzen würde, so lange expansiv zu bleiben wie es nötig ist, um die Auswirkungen des Pandemieschocks auf die Beschäftigung vollständig zu beseitigen, die Inflation nachhaltig auf das 2%-Ziel zurückzubringen und die Wirtschaft auf den Pfad eines robusten, arbeitsplatzschaffenden Wachstums zu setzen. Die Europäische Zentralbank folgt dieser Logik bereits. Es liegt nun an den Mitgliedstaaten und dem Rat der Finanzminister sich ihrerseits zu verpflichten, auch ihren Teil zu tun.
Englischer Original Text: The Forgotten Virtues of a High-Pressure Economy – by Jean Pisani-Ferry, programmatic director of Emmanuel Macron’s 2017 election campaign
Jean Pisani-Ferry holds the Tommaso Padoa Schioppa chair of the European University Institute. He is a Senior Fellow at Bruegel, a Brussels-based think tank, and a Non-Resident Senior Fellow at the Peterson Institute (Washington DC). He is also a professor of economics at Sciences Po (Paris). In 2017, he was the Director of programme and ideas for Emmanuel Macron’s presidential bid.
Pisani-Ferry’s article has been translated by us into German and English. The original French text was published in Le Monde at the end of March.
The Forgotten Virtues of a High-Pressure Economy
Jean Pisani-Ferry
Despite controversies over the scale of President Biden’s fiscal plans, a new consensus is currently emerging in the US: the best strategy to deal with the consequences of the health crisis and to alleviate the country’s severe social problems is to put the economy under high pressure.
This idea is not entirely new: Arthur Okun, a Keynesian economist and former advisor to US President Lyndon B. Johnson, formulated it in the early 1970s. But it is back in fashion: Janet Yellen, a former Fed chair and now the US Treasury Secretary, brought it back into play in a talk in late 2019. Visibly, the concept also inspires Jerome Powell, the current chairman of the Federal Reserve.
So what is the idea of a high pressure economy about? Since a famous lecture by Milton Friedman in 1968, the monetary and fiscal policy of most advanced economies has largely been based on the idea of a “natural rate of unemployment” that can only be undercut at the cost of rising inflation. If and when this threshold is reached, growth must be slowed down to prevent the economy from overheating. Such preventive economic slow-downs have been performed regularly since the 1980s, with the result that inflation has settled at an alarmingly low level from which we have not been able to recover in recent years.
Okun’s thesis, in contrast — stated in 1973, a few years after Friedman’s lecture — is that policy should experiment with how far the unemployment rate can be lowered, with the aim of running the economy in a state of labour scarcity. Such a situation requires that companies undertake additional efforts to hire and train workers, but it helps reintegrate into employment those who are furthest from it: The long-term unemployed, people who have withdrawn from the labour market entirely, low-skilled employees and workers belonging to ethnic and other minorities. If successful, the rewards are twofold: increased potential GDP — by 2 to 3 percentage points for every percentage point of lasting unemployment decline, Okun estimated — and a significant improvement of the fate of the most disadvantaged.
Never quite forgotten on the other side of the Atlantic, the idea is now back in fashion. Last summer, the Federal Reserve revised its monetary policy strategy. It now aims to minimise the shortfall in employment relative to its maximum achievable level. This explicitly asymmetric framing implies that the inflation risks associated with too high a level of employment are considered less severe than those arising from too low a level. In his presentation of the new strategy, Powell explicitly emphasised the benefits of a tight labour market for “low-income groups”, especially ethnic minorities.
Such benefits were visible in early 2020, before the Corona crisis hit. While in 2009, in the aftermath of the global financial crisis, the unemployment rate for African-Americans and those without a high school degree was five points higher than the average unemployment rate, by early 2020 this gap had shrank to only two and a half points. At the same time, labour force participation rates had increased and low wages were rising much faster than the average. Trump’s reckless expansion had produced the effects predicted by Okun.
A recent study[3] investigates whether these effects hold more generally. Its results support Okun: first, the excess unemployment of disadvantaged workers is correlated with the business cycle;[4] second and importantly, they seem to benefit particularly strongly from high pressure episodes. Odds are that such macroeconomic episodes lastingly improve the situation of disadvantaged groups in the long run. This would mean that there is positive hysteresis: A person reintegrated into the labour market during a period of high demand pressure may keep on participating in it, even after the situation has returned to normal.
This is key: if unemployment and labour market participation exhibit hysteresis, both recessions and high-pressure episodes can have persistent (but not everlasting) effects on employment and economic potential. Although this hypothesis was repeatedly mentioned, for example by Benoît Coeuré when member of the ECB Executive Board, or by Olivier Blanchard in a 2018 article, it has never been definitively proven. However, it remains sufficiently likely to make the risks of a high-pressure economy acceptable.
This holds particularly true for the euro area, where there has been little economic pressure and significant slack for a long time. Inflation aversion, fear of deficits, and coordination problems have combined in such a way that economic policy in the euro area regularly chose the risk of high unemployment and a loss of economic potential over the risk of overheating. This was particularly evident after 2008, with the consequence of a double dip recession. It would be criminal to relapse into the same pattern.
Conditions nowadays are ideal to experiment with the opposite strategy. Apart from in a few sectors, the Corona shock has probably not caused any permanent damage to our economic potential; the strength of last summer’s recovery and the remarkable resilience of business investment are indicative in this regard. In this situation, the biggest threat is not inflation but a sustained decline in inflation expectations. Interest rates are well below the growth rate, making debt exceptionally cheap. Finally, the Stability and Growth Pact has been suspended, giving euro-area member states unprecedented room for manoeuvre.
To experiment with a high-pressure economy does not imply an all-out expansion. For now, it would suffice for economic policy to set itself the perfectly reasonable goal of remaining expansionary for as long as it takes to fully eliminate the employment impact of the pandemic shock, bring inflation back to the 2% target on a sustainable basis, and put the economy on a robust, job-creating growth path. The European Central Bank is already following this logic. It is now up to the member states and the Council of Finance Ministers to commit to doing their part as well.
Fußnoten
[1] Stephanie Aaronson, Mary Daly, William Wascher und David Wilcox, “Okun Revisited: Who Benefits Most From a Strong Economy?”, Brookings Papers on Economic Activity, März 2019.
[2] Sprich die Lücke zwischen der durchschnittlichen Arbeitslosenquote, und der Arbeitslosenquote von Geringverdienern, Niedrigqualifizierten und anderweitig Benachteiligten ist in einer Rezession besonders hoch, im Aufschwung hingegen geringer. In einer Rezession sind Benachteiligte daher doppelt betroffen: zusätzlich zum Anstieg der durchschnittlichen Arbeitslosenquote steigt auch noch der Abstand zwischen dieser Quote und der Arbeitslosenquote in ihrem Segment.
[3] Stephanie Aaronson, Mary Daly, William Wascher und David Wilcox, “Okun Revisited: Who Benefits Most From a Strong Economy?”, Brookings Papers on Economic Activity, März 2019.
[4] In other words, the gap between the average unemployment rate and the unemployment rate of low-wage earners, the low-skilled and the otherwise disadvantaged is particularly high in a recession, but lower in an upswing. In a recession, the disadvantaged are therefore affected twice: in addition to the increase in the average unemployment rate, the gap between this rate and the unemployment rate in their relative segment also increases.
Der Dezernatsbrief ist ein zweiwöchentlicher Kommentar zu aktuellen Fragen der deutschen und europäischen Ökonomie. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns und erbitten deren Zusendung an info[at]dezernatzukunft.org
In den Medien:
- Unter dem Titel „Investitionen braucht das Land“ hat die Süddeutsche Zeitung am 25.5. von unseren Vorschlägen für eine neue deutsche Finanzpolitik berichtet. Wir freuen uns über die gute Zusammenfassung und stimmen zu: „Geht es nach Philippa Sigl-Glöckner und ihren Kollegen der Denkfabrik “Dezernat Zukunft”, sollte die Ausgabenpolitik auf eine komplett neue Basis gestellt werden“.
- Am 26.5. hat Philippa diese Vorschläge beim Forum New Economy vorgestellt. Das Video davon gibt es hier, unser Panel fängt bei ca. 1:10h an. Das Papier, in dem wir diese Vorschläge entwickeln, wird in Kürze erscheinen. Wir werden die Veröffentlichung über unseren Newsletter bekannt geben.
Für den Ausblick:
- Interview mit Jung & Naiv wurde verschoben, wir geben den neuen Termin bekannt, sobald wir mehr wissen – Am
7.6., 19:45 Uhrist Philippa bei Jung & Naiv zu Gast. Wir sind wahnsinnig gespannt und freuen uns sehr. Livestream und Video werden hier zu finden sein. - Wir freuen uns, Eckhardt Rehberg MdB, haushaltspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, zu unserem Stammtisch heute Abend begrüßen zu dürfen. Bitte beachten: diese Veranstaltung wird unter der Chatham House Rule stattfinden und erforderte eine vorherige Registrierung.
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