Inflationsrate in Deutschland bei 3,8% – Ist die Preisstabilität in Gefahr?
Die Inflationszahlen für Juli wurden mit voraussichtlich deutlich über 2% angegeben. Heißt das, dass die Preisstabilität in Gefahr ist? Kommt jetzt die große Inflation? Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns im neuesten Dezernatsbrief. Am Ende findet sich die übliche Zusammenfassung was sonst geschehen ist und geschrieben bzw. gesagt wurde vom und rund ums Dezernat.
Die Inflationsrate in Deutschland lag gemessen am Verbraucherpreisindex (VPI) bei 3,8% und damit auf dem höchsten Wert seit Dezember 1993. Der Ausschlag nach oben hat in Deutschland eine Debatte zur Frage ausgelöst, ob die Preisstabilität nun in Gefahr sei, wir weiterhin hohe Inflationsraten erleben werden und ob die Geldpolitik hierauf reagieren sollte.
Wann sollte die Geldpolitik reagieren?
Das Eurosystem hat gemäß EU-Vertrag das vorrangige Ziel, Preisstabilität zu gewährleisten. Preisstabilität wird dabei definiert als eine Inflationsrate von 2% auf mittlere Sicht. Der Zusatz „auf mittlere“ Sicht ist deshalb so wichtig, weil die Inflationsrate kurzfristig von Einmaleffekten verzerrt sein kann, auf die die Geldpolitik nur reagieren sollte, wenn sie sich zu verselbstständigen drohen, also wenn etwa einmalige hohe Preissteigerungen hohe Lohnforderungen und Lohnabschlüsse oberhalb des Produktivitätsanstiegs der Volkswirtschaft zur Folge hätten. Würde die Geldpolitik auf eine aus Einmaleffekten zu niedrigen Inflationsrate etwa mit Zinssenkungen reagieren, könnte die Inflationsrate in den Folgeperioden zu hoch ausfallen (und umgekehrt). Die Geldpolitik muss also unbedingt analysieren, welche Faktoren jeweils die Preise treiben, um herauszufinden, ob sie reagieren sollte oder nicht.
Was sind aktuell die Inflationstreiber?
Was die jeweils aktuellen Preistreiber sind, ist in Deutschland maximal transparent. Das Statistische Bundesamt erklärt dies nicht nur monatlich in einer Presseerklärung, sondern geht bei Besonderheiten – wie bei der aktuell außergewöhnlich hohen Inflationsrate – auch in seinem Podcast darauf ein. Im Wesentlichen sind dies zurzeit die Rücknahme des Mehrwertsteuerrabatts aus dem Juli 2020 und die steigenden Energiepreise. Beides sind sogenannte „Basiseffekte“, das heißt die hohen Inflationsraten heute sind Resultat der extrem niedrigen Inflationsraten im Vorjahr, als die Preise wegen der Mehrwertsteuerreduzierung und den aufgrund der Pandemie gesunkenen Energiepreisen sanken.[1] So lag die Inflationsrate im Juli 2020 bei Minus 0,1%. Genauso wie die Inflationsrate im Juli 2020 von Einmaleffekten getrieben war und wir nicht etwa den Weg in einer brüningsche Deflationspolitik beschleunigt hatten, ist die hohe Inflationsrate im Jahr 2021 von Einmaleffekten getrieben – nämlich der Erholung im Vergleich zum Vorjahr. Schaut man durch die Pandemie durch und berechnet man die Inflationsrate seit Juli 2019 (verschiebt man also das Basisjahr um ein Jahr nach hinten), dann liegt die Inflationsrate aktuell bei 1,81% p.a. und damit deutlich unterhalb der Preisstabilitätsdefinition des Eurosystems.[2]
Wie sehen die Inflationserwartungen aus?
Ein weiterer Indikator, den Zentralbanken analysieren um festzustellen, ob Inflation droht, sind die marktimpliziten Inflationserwartungen. An Finanzmärkten werden Finanzprodukte gehandelt, mit denen man sich gegen die Inflation absichern kann. Wer heute etwa einen 5y5y Inflationsswap abschließt, der erhält ab dem August 2026 für die darauffolgenden fünf Jahre jeweils die dann ermittelte Inflationsrate als jährliche Zahlung.[3] Am Preis dieser Produkte kann man also die marktimpliziten Inflationserwartungen ablesen. Der Preis eines 5y5y-Inflationsswaps liegt aktuell bei 1,6% und damit deutlich unterhalb des Inflationsziels. Wer Angst vor Inflation hat, der kann Online in Minuten ein Depot eröffnen und sich mit einem solchen Inflationsswap gegen höhere Inflation absichern. Wäre die von manchen Kolumnisten herbeigeredete Inflationsangst ein Phänomen, das auch Menschen erfasst, die ihr eigenes Geld darauf setzen, dann wäre die Nachfrage nach solchen Swaps höher und damit auch ihr Preis.
Ist Inflation also völlig ausgeschlossen?
Statistiker feixen häufig nach dem Motto „Da die Zukunft ungewiss ist, lässt sie sich so schwer prognostizieren“. Prognosen können nur auf Basis der heute zur Verfügung stehenden Informationen erstellt werden. Natürlich ist theoretisch ein Szenario denkbar, bei welchem die Arbeitslosigkeit in der Eurozone deutlich sinkt, die Verhandlungsmacht der Arbeiternehmer steigt und diese Einmaleffekte im Preisniveau zum Anlass für unverhältnismäßig hohe Lohnforderungen nutzen. So könnte tatsächlich Inflationsdruck entstehen. Für ein solches Szenario gibt es aktuell bei einer Arbeitslosenquote von 7,7% jedoch nur sehr wenig Anlass. Es wird von Experten in Zentralbanken sowie an den Finanzmärkten entsprechend auch nicht erwartet. Im Übrigen: Sollten wir tatsächlich mal vor diesem Problem stehen, dann wäre der Weg dorthin erstens für viele Menschen ein wünschenswerter (sie hätten dann einen Job) und zweitens arbeiten bestens ausgebildete Ökonominnen im Eurosystem daran, genau solche Entwicklungen zu prognostizieren, damit die Geldpolitik in einem solchen Fall rechtzeitig Zinserhöhungen umsetzen kann.
Würde die Zentralbank denn rechtzeitig die Zinsen erhöhen?
Man kann Zentralbankern in der Eurozone bestimmt manche Vorwürfe machen: zum Beispiel konservativen Kleidungsstil, manchmal zu komplexe Sprache und popkulturelle Wissenslücken. Mangelndes Selbstbewusstsein gegenüber der Politik gehört jedoch sicher nicht dazu. Wer glaubt, dass das Eurosystem angesichts einer drohenden Lohn-Preisspirale nicht zu Zinserhöhungen greifen würde, der trifft eine grob falsche charakterliche Einschätzung der handelnden Akteure und missversteht ihre Anreize. Die Unabhängigkeit der Notenbanken ist in der Verfassung jedes Mitgliedsstaats der EU festgeschrieben, ihre PräsidentInnen haben unkündbare Verträge und werden an der Erreichung ihres vorrangigen Mandats gemessen, also ob das Eurosystem alles in seiner Macht stehende getan hat, um Preisstabilität zu erreichen. Die NotenbankpräsidentInnen der Eurozone haben nicht nur keinen Anreiz, eine zu lockere Geldpolitik umzusetzen, sondern sie sind auch selbstbewusst und charakterstark genug, sich im Zweifel gegen eventuell aufkommende Forderungen nach einer zu lockeren Geldpolitik durchzusetzen. Die leider immer noch gelegentlich in der deutschen Debatte vorgetragen, nationalchauvinistischen Behauptungen nach dem Motto „Die Südländer wollen die Zinsen doch nicht erhöhen, sondern ihre Staaten günstig finanzieren“ widersprechen jedenfalls nicht nur der Empirie (schließlich lag die Inflationsrate im Eurosystem fast durchgehend unterhalb des Inflationsziels[4]), sondern stehen auch diametral zu den Markterwartungen. Gingen die Finanzmärkte davon aus, dass das Eurosystem tatsächlich zukünftig eine zu lockere Geldpolitik anstrebt, würden die 5y5y Inflationsswaps eben nicht deutlich unterhalb des Inflationsziels notieren, sondern darüber.
Fußnoten
[1] Die (pandemiebedingte) weltweite Rezession hat im Jahr 2020 die Ölnachfrage sinken lassen, was dadurch verstärkt wurde, dass sich in der Pandemie die Menschen weniger fortbewegt haben und der Rückgang der Ölnachfrage so noch stärker war als in Rezessionen üblich. Der Rückgang der Nachfrage hatte dann einen Rückgang der Energiepreise zur Folge. Die Erholung der Energiepreise trägt in diesem Jahr spiegelbildlich dazu bei, dass in diesem Jahr eine höhere Inflationsrate ausgewiesen wird.
[2] Vgl.: Statistisches Bundesamt Deutschland – GENESIS-Online: Ergebnis 61111-0002 (destatis.de)
[3] Ein Swap ist ein Tausch zweier Zahlungsströme. Oft wird dabei ein variabler Zahlungsstrom (z.B. die tatsächliche zukünftige Inflationsrate) gegen einen festgelegten Zahlungsstrom (z.B. eine feste jährliche Zahlung von 1,6%) getauscht. In Fall eines 5 Jahre 5 Jahre (auf Englisch: 5 year 5 year, abgekürzt 5y5y) Inflationsswap erhält die eine Vertragspartei den zum Abschluss des Geschäfts festgelegten Zinssatz, die andere Partei die tatsächliche jährliche Inflationsrate; diese Zahlungsströme beginnen in fünf Jahren – im Falle eines heute abgeschlossenen 5y5y Swap also ab August 2026 – und laufen dann für fünf Jahre.
[4] Vgl. Chart 9: Inflation dynamics during a pandemic (europa.eu), Philipp Lane, 1. April 2021.
Der Dezernatsbrief ist ein zweiwöchentlicher Kommentar zu aktuellen Fragen der deutschen und europäischen Ökonomie. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns und erbitten deren Zusendung an florian.kern[at]dezernatzukunft.org
Veranstaltungen:
- Unsere Sonderserie „Reden wir über Geld“ ist nun abgeschlossen: Wir haben mit Sven-Christian Kindler (Bündnis 90/Die Grünen), Carsten Schneider (SPD), Otto Fricke (FDP) und Antje Tillmann (CDU) über die Wahlprogramme und Finanzpolitik ihrer jeweiligen Parteien gesprochen. Wer die Termine verpasst hat findet die Aufzeichnungen hier.
- Philippa war bei der Bertelsmann Stiftung, um den Film Germanomics von Makronom zu diskutieren mit Mike Friedrich (dem Regisseur), Sebastian Dullien, Johannes Becker, sowie Alexandra Borchardt.
- Am 30.8. wird Philippa beim Forum Alpbach im Format „Mondays for Markets“ über unsere Ideen für die Zukunft sprechen. Die Details gibt es hier.
Veröffentlichungen:
- In den letzten beiden Ausgaben des Wirtschaftsdiensts erschienen zwei Artikel von Max, Philippa und Florian Schuster, die sich mit der Frage von zukunftsfähigen Staatsfinanzen und der Konjunkturkomponente der Schuldenbremse beschäftigen. Für die Eiligen: Eine Twitter-Zusammenfassung des Ersteren gibt es hier, des Letzteren hier.
- In der Wirtschaftswoche hat Philippa aufgeschrieben, „Warum unsere Schuldenbremse von gestern ist.“ Eine kurze, knackige Verdichtung der Argumente, die wir im Laufe der letzten Monate entwickelt und publiziert haben.
- Florian Schuster und Philippa haben in der Süddeutschen Zeitung erklärt, warum gilt: „Wenn Frauen mehr arbeiten, ist das gut für alle.“ In diesem Gastbeitrag zeigen Florian und Philippa die Verbindungen zwischen der Schuldenbremse, dem Arbeitsmarkt und der Frauenerwerbsquote.
In den Medien:
- Die englische Version unseres „Neue deutsche Fiskalpolitik“-Papiers wurde von Matthew Klein kommentiert, in seiner Newsletter The Overshoot.
- Max war zu Gast bei Behind the News, einem Podcast und Radioprogramm aus Berkeley, um über Nachhaltigkeit und Investitionsplanung zu reden.
- Florian Kern wurde von Der Freitag interviewt. Ebenso wie in diesem Dezernatsbrief ging es um das Thema Inflation. Wir werden das Interview tweeten, sobald es erscheint, und verlinken es in unserem nächsten Newsletter.
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