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29. June 2023
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Janek Steitz

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Geldbrief

Industriestrompreis – Impulse für einen Kompromiss

Lesedauer: 10 min
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Janek Steitz, Philippa Sigl-Glöckner

In diesem Geldbrief widmen wir uns dem Thema Industriestrompreis. Politiker:innen und Expert:innen sind sich uneinig, ob ein Industriestrompreis eine gute Idee ist. Auch wir tun uns schwer. Auf der Basis der Erkenntnisse unseres Industrieprojektes sehen wir aber die Möglichkeit für einen Kompromiss, mit dem beide Seiten leben könnten.

Anfang Mai hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) ein Konzept für einen Industriestrompreis vorgelegt. Dieser sei nötig, damit „energieintensive Unternehmen in Deutschland […] dauerhaft, aber auch in der mittleren Frist wettbewerbsfähig produzieren können“.[1]

Der BMWK-Vorschlag enthält zwei Säulen: Über ein Bündel an Maßnahmen soll der Industrie ab 2030 ein sogenannter „Transformationsstrompreis“ ermöglicht werden. Dabei geht es nicht um direkte Bezuschussung des Strompreises, sondern primär um die Absicherung von Strompreisrisiken sowie die Unterstützung von Stromlangfristverträgen, um günstigen erneuerbaren Strom für die Industrie planbar verfügbar zu machen. In diesem Geldbrief gucken wir uns die zweite Säule genauer an, die aktuell kontrovers diskutiert wird: Um die Zeit bis zum Wirken dieser Maßnahmen zu überbrücken, soll es ab 2024 einen bis 2030 befristeten „Brückenstrompreis“ von sechs Cent je Kilowattstunde geben. Dieser soll verhindern, dass strom- und handelsintensive Unternehmen aufgrund kriegsbedingter Strompreisanstiege in den nächsten Jahren abwandern.

Brückenstrompreis bis 2030

Für die Notwendigkeit eines Brückenstrompreises nennt das BMWK drei Gründe. Erstens: Die Strompreise würden in Deutschland aufgrund des russischen Angriffskrieges auch über die nächsten Jahre erhöht bleiben. Zweitens: Energieintensive Industrien stünden in einem harten internationalen Wettbewerb, der durch jüngste industriepolitische Initiativen wie dem Inflation Reduction Act in den USA noch intensiviert wurde. Und drittens: Deutschlands industrielle Stärke beruhe auf integrierten Wertschöpfungseffekten und Netzwerkeffekten, weshalb es die Produktion energieintensiver Grundstoffe zum Wohle aller zu erhalten gelte.

Hinsichtlich der Ausgestaltung schlägt das Ministerium vor, den Empfängerkreis auf energieintensive Industrieunternehmen zu beschränken, die im internationalen Wettbewerb stehen. Neue stromintensive Technologien sollen ebenfalls berücksichtigt werden. Damit Sparanreize erhalten bleiben, soll sich der Brückenstrompreis auf den durchschnittlichen Börsenstrompreis des Jahres beziehen und die Subventionshöhe über Stromverbrauchsbenchmarks der effizientesten Unternehmen je Branche ermittelt werden. Zudem soll der Zuschuss nur für 80% des Verbrauchs gewährleistet werden. Im Gegenzug zur Inanspruchnahme der Subvention sollen sich Unternehmen dazu verpflichten, bis 2045 klimaneutral zu sein und sich – soweit verfassungsrechtlich möglich – tariftreu zu verhalten. Finanziert werden soll der Brückenstrompreis aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds.

Uneinigkeit innerhalb der Regierung und unter Expert:innen

Im Gegensatz zu Wirtschaftsminister Robert Habeck sieht Finanzminister Christian Lindner einen Industriestrompreis äußerst skeptisch. In einem Handelsblattbeitrag vom 02. Mai 2023 bezeichnet er die Idee als „ökonomisch unklug“. Laut Lindner wäre eine Privilegierung von Industrieunternehmen verteilungspolitisch ungerecht, da sie höhere Strompreise für alle andere Verbraucher:innen zur Folge habe. Zudem wäre sie auch ökonomisch ineffizient, da Knappheitssignale im Strommarkt nicht mehr weitergegeben und so Effizienz- und Flexibilitätsanstrengungen reduziert würden.

Auch viele Wissenschaftler:innen sehen den Brückenstrompreis kritisch. Vier der fünf Wirtschaftsweisen sind dagegen. Die Vorsitzende des Sachverständigenrates Monika Schnitzer ist der Meinung, dass das Instrument knappe Steuergelder von weniger energieintensiven Branchen in energieintensive Branchen verteile. Das bremse den Strukturwandel, der aber dringend notwendig sei. Forschende vom Leibnitz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Aus ihrer Sicht ist eine Subventionierung industrieller Strompreise für die Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft kontraproduktiv, da Effizienz- und Innovationsanreize verloren gingen, die jedoch notwendig seien, um den transformationsbedingt steigenden Strombedarf zu decken.[2]

Anderen Akteuren wie dem Deutschen Gewerkschaftsbund geht der BMWK-Vorschlag hingegen nicht weit genug. DGB-Chefin Yasmin Fahimi fordert einen garantierten Strompreis für die Industrie von vier Cent pro Kilowattstunde. Sie betont dabei, dass es für die Sicherung des Industriestandorts entscheidend sei, geschlossene Wertschöpfungsketten und Verbundstrukturen zu erhalten.

Zwei Erkenntnisse aus unserer Arbeit, um die Diskussion voranzubringen

Auf die Frage, ob es einen Brückenstrompreis braucht und wie er ausgestaltet sein sollte, gibt es keine einfachen Antworten – das Thema ist vielschichtig. Dennoch fehlt es der Diskussion aus unserer Sicht an einigen Stellen an Differenzierung. Unser laufendes Industrieprojekt liefert zwei Erkenntnisse, die die Diskussion voranbringen können:

Deutschland wird auch nach Abklingen der fossilen Energiekrise und mit höheren Anteilen erneuerbarer Energien höhere Strompreise haben als andere Industriestandorte.

Zwar ist anzunehmen, dass die vom BMWK anvisierten Maßnahmen eines „Transformationsstrompreises“ die Stromkosten energieintensiver Industrieunternehmen langfristig senken. Doch profitieren auch andere Standorte global von sinkenden erneuerbaren Stromgestehungskosten. Entscheidend für die langfristige Wettbewerbsfähigkeit sind die Kostenunterschiede zwischen Deutschland und dem Ausland. In einer Studie im Auftrag des Dezernat Zukunft schätzt Frontier Economics, dass die erneuerbare Stromerzeugung in Deutschland – wenn die Unternehmen eine relativ konstante Menge über das Jahr hinweg abnehmen wollen – im Jahr 2030 mindestens 70 Euro je Megawattstunde kosten wird (vgl. Abbildung 1). Die deutschen Stromgestehungskosten liegen damit bis zu 80% über den Gestehungskosten anderer günstiger Industriestandorte. Bis zum Jahr 2045 wird sich der Unterschied verkleinern, mit knapp 70% aber immer noch groß sein.

Abbildung 1

Die tatsächlichen Stromkosten für die deutsche Industrie dürften jedoch in 2030 noch deutlich höher sein. Denn zum einen sind die Annahmen in unserer Kostenberechnung recht optimistisch und das Potenzial für günstigen Bandstrom aus Wind Offshore-Anlagen in der Nordsee ist begrenzt. Zum anderen sind letztlich Strompreise ausschlaggebend, die in Deutschland mehr als in den Vergleichsländern aufgrund des begrenzten Angebotspotenzials noch weit über den Gestehungskosten liegen dürften.

Was heißt das für die Ausgestaltung des Brückenstrompreises? Die erklärte Absicht des BMWK, das fossile Premium infolge des russischen Angriffskrieges auch über 2024 hinaus für stromintensive Industrieunternehmen abzumildern, halten wir grundsätzlich für sinnvoll. Denn tatsächlich handeln Stromlieferungen auf den deutschen Terminmärkten in den nächsten Jahren noch etwa zweimal so hoch wie vor dem Krieg – und deutlich über den Preisen in anderen Industriestandorten. Doch solange die Regierung nicht beabsichtigt, Stromkosten dauerhaft zu subventionieren, sollte der Brückenstrompreis die über einen „Transformationsstrompreis“ erzielbaren Beschaffungskosten (ohne Steuern und Abgaben) nicht unterschreiten. Diese dürften im Jahr 2030 im Jahresmittel über 6 Cent je Kilowattstunde liegen – wie oben verdeutlicht.

Der Import energieintensiver Zwischenprodukte aus Ländern mit günstigen Erzeugungsbedingungen ist für einen Teil der Industrieabnehmer eine zentrale Strategie, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.

Auf der Basis der obigen Energiekostenschätzungen lässt sich zeigen, dass die heimische Produktion klimaneutraler Grundstoffe auch langfristig voraussichtlich mit erheblichen Kostennachteilen konfrontiert sein wird. In unserer Analyse belaufen sich die Energiekostennachteile heimischer klimaneutraler Produktion für vier energieintensive Branchen (Stahl, Ammoniak, Aluminium, Olefine) auf 25% bis 80% im Vergleich zu den günstigsten internationalen Standorten.

Die Frage ist jedoch, wie Abnehmerbranchen energieintensiver Vorprodukte auf langfristige Preisunterschiede reagieren werden. Dazu hat die IW Köln Consult in unserem Auftrag eine Umfrage unter Downstream-Abnehmern energieintensiver Vorprodukte gemacht und gefragt, wie sie auf langfristige Preisunterschiede zwischen in Deutschland und im Ausland klimaneutral hergestellten energieintensiven Vorprodukten reagieren würden. Wie Abbildung 2 zeigt, beträgt der Anteil der befragten Abnehmer, die als Reaktion auf langfristige Preisunterschiede mit Auslandsbezug reagieren würden, zwischen 37% (geringer Preisunterschied) und 49% (mittlerer Preisunterschied). Gleichzeitig würden im Fall eines großen Preisunterschieds bis zu 40% der befragten Abnehmer mit Auslandsverlagerung oder Geschäftsaufgabe reagieren. Bei einem moderaten Unterschied wären es nur 14%.

Abbildung 2

Die Umfrageergebnisse legen nah, dass die Abnehmerbranchen sensibel auf strukturelle Unterschiede in den Preisen energieintensiver Produkte zwischen In- und Ausland reagieren werden. Branchenspezifische Auswertungen zeigen zudem, dass vor allem midstream-Abnehmer von Grundstoffen in den Wirtschaftszweigen Metallerzeugung und chemische Erzeugnisse, die vertikal eng verflochten sind, bei großen Preisunterschieden mit Verlagerung oder Geschäftsaufgabe reagieren würden. Nachgelagerte Abnehmer, z.B. in der Herstellung von Metallerzeugnissen oder Kunststoffprodukten, im Maschinen- und Fahrzeugbau, sehen hingegen mehr Raum für den Auslandsbezug von Vorprodukten. Importsubstitution scheint hier eine Überlebensstrategie für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit. Der Wert integrierter Wertschöpfungsketten kennt also – anders als oft behauptet – auch Grenzen.

Impulse für einen Kompromiss

Die Absicht, strom- und handelsintensive Unternehmen, die langfristig wettbewerbsfähig sind in Deutschland, aufgrund kriegsbedingter Strommehrkosten temporär zu unterstützen, halten wir für absolut sinnvoll – und konsensfähig unter Befürwortern und Gegnern eines Industriestrompreises.

Zwei Variablen sind bei der Ausgestaltung zentral: der Referenzpreis und der Empfängerkreis. Hinsichtlich des Referenzpreises verdeutlicht die obige Analyse, dass sechs Cent je Kilowattstunde vermutlich zu niedrig angesetzt sind, wenn es nicht zu einer dauerhaften Subventionierung kommen soll. Um das zu vermeiden, wäre es gut, sich an den realistisch erzielbaren Beschaffungskosten einer relativ konstanten Strombereitstellung aus erneuerbaren Energien für die Jahre 2028 bis 2030 zu orientieren.

Aus unserer Sicht zeigt die obige Analyse auch, dass partielle Importsubstitution ohne dauerhafte Subventionierung langfristig vermutlich nicht zu verhindern sein wird. Abnehmer-Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes scheinen damit jedoch größtenteils gut umgehen zu können.

Sollte es politisch für notwendig erachtet werden, dass die zukünftige Existenz einzelner stromintensiver Branchen aus geostrategischen Gründen zusätzliche Bezuschussung erfordert, empfehlen wir, dies nicht über einen Industriestrompreis, sondern separat davon zu regeln. Der Industriestrompreis ist ein zu grobes Instrument für eine so gezielte Förderung.

Denkbar ist zudem, den Referenzpreis über die Zeit bis 2030 ansteigen zu lassen. So würden Anreize für Industrieunternehmen gesetzt, zunehmend auf erneuerbare Langfristverträge und Eigenproduktion umzusteigen, um so langfristig günstigen erneuerbaren Strom zu beziehen.

Bezüglich des Empfängerkreises halten wir eine Orientierung am Rahmen der Besonderen Ausgleichregelung, ein bis zum Jahr 2022 verwendetes Instrument zur Begrenzung der EEG-Umlage für stromintensive Unternehmen, grundsätzlich für sinnvoll. Denn die obige Analyse zeigt, dass zum einen stromintensive Unternehmen besonders betroffen sind und zum anderen auch Abnehmer stromintensiver Vorprodukte von einer Bezuschussung profitieren. Die Verzerrungseffekte dürften sich also in Grenzen halten, zumal bei einem höheren Referenzpreis von größer sechs Cent.

Es sollte überprüft werden, ob die Schwelle der Stromkostenintensität gemäß Besonderer Ausgleichregelung – 14% bei der letzten Anwendung der Besonderen Ausgleichregelung – weiterhin das geeignete Maß ist. Zwar dürften aufgrund der höheren Beschaffungskosten der letzten zwei Jahre nun mehr Unternehmen diese Schwelle überschreiten. Doch könnten die über die nächsten Jahre vermutlich anhaltend hohen Strompreise auch Unternehmen, deren Stromkostenintensität weniger als 14% beträgt, in Bedrängnis bringen. Eine Ausweitung würde zudem die von einigen Expert:innen befürchteten Verzerrungseffekte reduzieren, würde jedoch zusätzliche Kosten verursachen.

Wie immer freuen wir uns über kritische Kommentare und Rückmeldungen – gerade bei einem Thema so kontrovers wie dieses. Die Meinungen in diesem Geldbrief sind die des Dezernat Zukunft. Nach der Sommerpause werden unsere Auftragnehmer IW Köln Consult und Frontier Economics den Endbericht unseres Industrieprojekts veröffentlichen, in dem die Abnehmerumfragen detailliert beschreiben wird. Außerdem wird der Endbericht Schätzungen wirtschaftlicher Auswirkungen verschiedener Szenarien beinhalten.

Unsere Leseempfehlungen: Joe Biden hat gestern eine interessante Rede zu Bidenomics gehalten. Die Aufzeichnung findet sich hier und das Manuskript hier. Eine gute Einordnung dazu liefert dieser Financial Times Artikel. 


Fußnoten

[1] Das Arbeitspapier des BMWK ist unter diesem Link verfügbar: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/W/wettbewerbsfaehige-strompreise-fuer-die-energieintensiven-unternehmen-in-deutschland-und-europa-sicherstellen.pdf?__blob=publicationFile&v=6.

[2] von Graevenitz et al. (2023): Brückenstrompreis: Fehler aus der Vergangenheit fortführen? https://ftp.zew.de/pub/zew-docs/policybrief/de/pb06-23.pdf.


Medien- und Veranstaltungsbericht 29.06.2023

  • Medienerwähnungen und Auftritte
    • Am 20.06.23 war Philippa bei einer Paneldiskussion beim Kongress „Tag der progressiven Wirtschaftspolitik“ in der FES. Diskutiert wurde über „Finanzierung der Transformation – Transformation der Finanzierung: Wie gestalten wir die deutsche Finanzpolitik nachhaltig und sozial gerecht?“.
    • Am 25.06.23 wurde Felix im Climate Gossip Podcast zu LNG interviewt.
    • Am 29.06.23 diskutierte Philippa gemeinsam mit Florian von Brunn (MdL, Vorsitzender BayernSPD und Fraktionsvorsitzender) und Bernhard Stiedl, Vorsitzender des DGB Bayern, bei einer Veranstaltung der FES und dem DGB Bayern über die Erbschaftssteuer.

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