Die neuen EU-Fiskalregeln – kurz erklärt
Florian Schuster, Max Krahé
Das Europäische Parlament hat diese Woche die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) verabschiedet. Damit hat die EU endgültig neue Fiskalregeln. In diesem Geldbrief tauchen wir in die neuen Vorgaben ein. Wir rekapitulieren den Hintergrund der Reform, erklären ihre Bestandteile und veranschaulichen mit ersten Zahlen, welche fiskalischen Auswirkungen sie haben könnte. Auch wenn noch nicht im Detail abzusehen ist, wie die Reform die Fiskalpolitik in der EU und einzelnen Mitgliedstaaten beeinflussen wird, gibt es gute Argumente dafür, kritisch zu bleiben und die Folgen zu analysieren.
Seit dieser Woche hat die EU neue Fiskalregeln. Das Europäische Parlament hat nach anderthalb Jahren der Debatte und Verhandlungen für den Kompromiss gestimmt, den es im Februar mit dem Rat geschlossen hat. Das Ziel war, die alten Vorgaben des SWP zu vereinfachen und flexibler auszugestalten. Klar ist schon jetzt: Auch die neuen Regeln sind komplex. In diesem Geldbrief versuchen wir, das Dickicht zu entwirren.
Warum die EU neue Regeln brauchte
Warum war eine Reform des SWP überhaupt auf die politische Agenda gelangt? Seit 2020 waren die Regeln wegen der wirtschaftlichen Achterbahnfahrt durch Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg ausgesetzt. Ab 2024 wollte man zu ihnen zurückkehren. Der SWP in seiner alten Form hatte über die Jahre aber einige Probleme offenbart. Für viele Staaten erwiesen sich seine Vorgaben als unpraktikabel und teilweise kontraproduktiv. Denn die Fiskalregeln waren zu einem beträchtlichen Teil prozyklisch, forderten unrealistisch harte Einschnitte in hochverschuldeten Staaten und ließen kaum Spielraum für wachstumsfördernde Investitionen. Im Effekt hatten die alten Regeln keinen Erfolg bei der Reduktion der Schuldenstände (siehe Abbildung 1). Alle Seiten waren sich einig, dass eine Reform notwendig war.
Abbildung 1
Maßgeschneiderte Regeln …
Was steht in den neuen Regeln? Das Wichtigste in Kürze: Die bekannten Defizit- und Schuldenkriterien von drei bzw. 60 Prozent des BIP gelten weiterhin. Die Regeln für den Weg dorthin wurden allerdings gründlich überarbeitet. Die Intention der Reform war es, ihn flexibler zu gestalten und individueller an die Rahmenbedingungen jedes Mitgliedstaates anzupassen. So werden beispielsweise das frühere mittelfristige Budgetziel, das Zielmarken für den strukturellen Haushaltssaldo vorschrieb, und starre Schuldenreduktionsverpflichtungen durch länderspezifische Vereinbarungen zwischen der EU-Kommission und den nationalen Regierungen ersetzt. Darin werden sowohl Festlegungen für die Entwicklung der Primärausgaben, d. h. Staatsausgaben ohne Zinszahlungen, als auch für Investitions- und Reformvorhaben in einem Anpassungszeitraum von grundsätzlich vier Jahren getroffen.[1]
Die länderspezifischen Vereinbarungen müssen sicherstellen, dass ein Land die Grenzwerte für Defizite und Schulden mittelfristig einhält. Konkret heißt das: Der Schuldenstand des Mitgliedstaates muss unter plausiblen Annahmen und mit einer hinreichend großen Wahrscheinlichkeit sinken oder unter 60 Prozent bleiben, sowohl über den Anpassungszeitraum als auch die zehn darauffolgenden Jahre. Außerdem muss das Budgetdefizit mittelfristig unter die Drei-Prozent-Hürde fallen. Die Kommission errechnet für jedes Land einen sogenannten Referenzpfad der Schuldenquote, der die beiden Kriterien erfüllt. Die länderspezifischen Vereinbarungen werden so gewählt, dass der Referenzpfad eingehalten wird.
„Ziemlich viel Zukunftsmusik“, könnte man sagen, zumal dabei Vorhersagen über lange Zeiträume gemacht werden. Für die Berechnung hat die Kommission ein Tool: die Schuldentragfähigkeitsanalyse (debt sustainability analysis, DSA). Mit ihr projiziert sie die Entwicklung des Schuldenstands unter gewissen Annahmen an Fiskalpolitik, Wirtschaftswachstum, Zinsen und Inflation. Ein Beispiel, wie ihr Ergebnis aussieht, zeigen wir in Abbildung 2. Diese Methodik ist annahmereich und problematisch.[2] Ihre Details werden in Zukunft von einer DSA Working Group überprüft und weiterentwickelt, deren Arbeit wir analytisch eng begleiten werden.
Der Fokus der neuen Regeln liegt also wie schon bei den alten auf der Reduktion von Schuldenständen. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass der Weg zu diesem Ziel nun maßgeschneidert wird.
Abbildung 2
… mit Einschränkungen
Doch ganz so maßgeschneidert sind die neuen EU-Fiskalregeln nicht. Denn man hat eine Hand voll numerischer Kriterien in den SWP hineingeschrieben, die für alle Länder gleichermaßen gelten. Allen voran die deutsche Bundesregierung in Gestalt von Christian Lindner pochte hart auf einheitliche, mit Zahlen unterlegte Zielvorgaben. Drei quantitative Kriterien haben es in den überarbeiteten SWP geschafft:
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Defizit-Benchmark: Länder, deren Budgetdefizit die Drei-Prozent-Grenze überschreitet, müssen ihr Defizit jährlich um mindestens 0,5 Prozentpunkte zurückfahren. Diese Anpassung muss durch eine Senkung des strukturellen Defizits erbracht werden.[3] Als nicht erfüllt gilt sie dagegen, wenn allein eine gute Konjunktur das Gesamtdefizits senkt. In Euro ausgedrückt, würde die Vorgabe z. B. bedeuten, dass Deutschland sein Defizit in einem Jahr um 20 Mrd. Euro reduzieren müsste. Zur Erinnerung: Ende 2023 musste die Bundesregierung ein Haushaltsloch von nur 12 Mrd. schließen – Anfang Januar waren die Bauern auf den Traktoren und die Straßen blockiert. Ein Kinderspiel ist die Einhaltung des Defizit-Benchmarks also nicht.
- Schuldentragfähigkeits-Safeguard: Er soll sicherstellen, dass die Schuldenreduktion schnell und umfassend genug erfolgt. Man hat sich auf unterschiedliche Vorgaben je nach Höhe des Schuldenstands geeinigt. Länder mit Schuldenquoten jenseits von 90 Prozent sind verpflichtet, sie um durchschnittlich einen Prozentpunkt pro Jahr des Anpassungszeitraums zu reduzieren. Liegen die Schulden dagegen zwischen 60 und 90 Prozent des BIP, ist ein halber Prozentpunkt pro Jahr ausreichend.
Wichtig ist, dass der Schuldentragfähigkeits-Safeguard dem Defizit-Benchmark nachgeordnet ist. Die numerische Vorgabe greift also erst dann, wenn das Defizit unter die Schwelle von drei Prozent gedrückt wurde und folglich kein Defizitverfahren läuft. Das erleichtert es hochverschuldeten Staaten, die neuen Regeln einzuhalten. Vorher mussten Staaten ihren Schuldenstand pro Jahr um ein Zwanzigstel reduzieren. In Italien wären das dieses Jahr ganze sieben Prozentpunkte gewesen. Die neue Vorgabe von einem Prozentpunkt erscheint im Vergleich wesentlich realistischer.
- Defizitresilienz-Safeguard: Das Ziel der Defizitresilienzvorgabe ist, einen fiskalischen Puffer für wirtschaftliche Schwächephasen aufzubauen. Das strukturelle, d. h. konjunkturbereinigte, Defizit sollte demnach einen Wert von 1,5 Prozent des BIP nicht überschreiten. Tut es das doch, ist der Mitgliedstaat verpflichtet, es um 0,4 Prozentpunkte bis zum Erreichen der Schwelle zurückzufahren.[4]
Neu ist nicht gleich lax
Man kann also festhalten: Die neuen Regeln, auch die numerischen Kriterien, sind in der Tat flexibler und lockerer als die alten. Das bedeutet aber nicht, dass sie die Haushaltsspielräume in den Mitgliedstaaten nicht doch erheblich einschränken. Die tatsächlichen Auswirkungen der Reform hängen letztendlich von der Strenge ihrer Anwendung ab. Was sich bereits sagen lässt, ist: Der reformierte SWP ist alles andere als lax.
Darauf weisen erste Zahlen des Brüsseler Think Tanks Bruegel hin, der den fiskalischen Anpassungsbedarf für alle Mitgliedstaaten nach der Einigung im Rat berechnet hat (siehe Abbildung 3).[5] Die Anpassungen, die sich ergeben, sind zum Teil enorm. So müssen beispielsweise die Slowakei, Belgien, Italien und Rumänien (bei einem vierjährigen Anpassungszeitraum) ihr strukturelles Primärdefizit jährlich um mehr als einen Prozentpunkt ihres BIP reduzieren. Für Italien bedeutet dies jährliche Einschnitte von mehr als 20 Mrd. Euro. Auch die Fiscal Matters Coalition hat erst kürzlich ausgerechnet, dass die neuen Regeln Einsparungen erforderlich machen, die keine ausreichenden Investitionsspielräume lassen.
Abbildung 3
Unser Fazit: Die Reform des SWP ist der Versuch eines Paradigmenwechsels im europäischen Fiskalregelwerk: weg von starren Universalregeln, hin zu einem länderspezifischen Ansatz. Auf dem Papier ist dieser Wechsel mit Einschränkungen gelungen. Wie er sich auf Investitionen, Schuldentragfähigkeit und die wirtschaftliche Entwicklung auswirkt, ist noch unklar. Für die konkreten Anpassungsbedarfe wird insbesondere wichtig sein, wie viele der Staaten versuchen werden, durch Reformen und Investitionen den Anpassungszeitraum von vier auf sieben Jahren zu verlängern, und wie hoch die Kommission und der Rat die Hürde dafür hängen werden.
Grund dazu, kritisch zu bleiben, gibt es aber. Denn auch die neuen Regeln beurteilen Schuldentragfähigkeit allein auf Basis arbiträrer Schulden- und Defizitquoten. Und die Anpassungsbedarfe, die sich aus DSA und Safeguards ergeben, engen den Raum für notwendige Investitionen spürbar ein. Wir werden das weiter analysieren. Stay tuned!
Unsere Leseempfehlungen:
- Der Think Tank Bruegel hat in diesem Papier die quantitativen Implikationen der neuen EU-Fiskalregeln ausgewertet. Darüber hinaus beschreibt er im Detail ihre einzelnen Bestandteile. Auch wenn die Publikation noch vor der Einigung im Rat und zwischen Rat und Parlament erschienen ist, gibt sie einen guten Überblick über die wichtigsten Elemente der Reform und ihrer Auswirkungen auf Fiskalpolitik in Europa.
- Age Bakker, Roel Beetsma und Marco Buti werfen in einem neuen Papier einen Blick nach vorn und skizzieren einen Weg, wie Europa im Einklang mit seinen neuen Fiskalregeln die notwendigen Investitionen unserer Zeit finanzieren kann. Sie sprechen sich darin für einen Nachfolgefonds für Next Generation EU aus und zeigen auf, wie er mit der Anwendung des reformierten SWP verwoben werden kann.
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Fußnoten
[1] Der Anpassungszeitraum kann auf sieben Jahre verlängert werden, wenn ein Land plausibel darlegt, dass es Investitions- und Reformanstrengungen unternimmt, die den politischen Prioritäten der EU entsprechen sowie Wachstum, Resilienz und nachhaltige Staatsfinanzen unterstützen. Ausgaben für die nationale Kofinanzierung von EU-Programmen werden sogar ganz aus den länderspezifischen Vereinbarungen ausgenommen.
[2] So nimmt ihre aktuelle Ausgestaltung an, dass öffentliche Ausgaben generell einen Fiskalmultiplikator von 0,75 haben, egal ob Investition, rezessionsbedingt oder während eines Booms.
[3] Für einen Übergangszeitraum bis 2027 kann diese Vorgabe stattdessen in Form des strukturellen Primärdefizits erbracht werden, was einfacher ist, da eventuell steigende Zinskosten dann nicht an anderer Stelle eingespart werden müssen.
[4] Im Falle eines ausgedehnten Anpassungszeitraums von sieben Jahren liegt die Reduktionsverpflichtung bei 0,25 Prozent des BIP.
[5] Die leichten Abänderungen des Kompromisses zwischen Rat und Parlament sind hier noch nicht berücksichtigt, dürften sich aber nur unwesentlich auf die ermittelten Anpassungsbedarfe auswirken.
Medien- und Veranstaltungsbericht 25.04.2024
- Medienerwähnungen und Auftritte
- Am 19.03.24 wurde das Buch „Democratizing the Corporation: The Bicameral Firm and Beyond” veröffentlicht, worin Max mit einem Kapitel vertreten ist.
- Am 02.04.24 befasste sich der Podcast Sea Change mit der deutschen LNG-Politik und Felix war hierzu mit den Moderatorinnen im Gespräch.
- Am 04.04.24 hat die Bundeszentrale für politische Bildung einen Sammelband zum Thema „Geldpolitik im Umbruch“ veröffentlicht, worin Florian Kern mit einem Beitrag vertreten ist. Er erklärt darin, wie Seignorage funktioniert und wer von welchem Geldstandard wie profitiert.
- Am 09.04.24 war Florian Schuster zu einer Anhörung des Hauptausschusses des Berliner Abgeordnetenhauses eingeladen und hat sich dort zur Reform der Schuldenbremse geäußert. Die Sitzung kann hier angesehen werden.
- Am 10.04.24 berichtete die taz über die Ausschusssitzung und zitiert Florian Schuster.
- Am 14.04.24 kam Felix im Podcast Climate Gossip mit einem Beitrag zu den Haushaltsverhandlungen vor.
- Am 15.04.24 wurde Felix in Ends Europe zur Klimapolitik zitiert.
- Am 19.04.24 wurde Florian Schuster im schwedischen Magazin Flamman zur anstehenden Verabschiedung der EU-Fiskalregeln zitiert.
- Veranstaltungen
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- Heute Abend, am 25.04.24, findet um 18 Uhr unser Webinar zur aktuellen Lage auf dem Arbeitsmarkt statt. Als Gast begrüßen wir Andrea Nahles, Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit. Gemeinsam möchten wir auf das Paradoxon am Arbeitsmarkt blicken. Auf der einen Seite sehen wir einen anhaltenden Fachkräftemangel, auch aufgrund des demographischen Wandels. Gleichzeitig lesen wir von Entlassungen im großen Stil — zuletzt 2000 Stellen bei Vodafone Deutschland — sowie sich verfestigender Arbeitslosigkeit. Wie erklärt sich das? Hier geht es zur Anmeldung.
- Am 14.05.24 nimmt Philippa an der Veranstaltung „Was kostet die Verkehrswende“ von Agora Verkehrswende teil. Dort wird eine Studie über die volkswirtschaftlichen Kosten auf dem Weg zur Klimaneutralität im Verkehr vorgestellt und diskutiert. Weitere Gäste sind Dr. Jens Burchardt, Managing Director & Partner, Boston Consulting Group (BCG), Alexander Möller, Geschäftsführer ÖPNV, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und Dr. Daniel Römer, Senior Economist, KfW Research.
Der Geldbrief ist unser Newsletter zu aktuellen Fragen der Wirtschafts- Fiskal- und Geldpolitik. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns. Zusendung an florian.schuster[at]dezernatzukunft.org
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