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3. März 2019
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Der Handel in unserer Hand: Möglichkeiten und Effekte von Handels- und Strukturpolitik

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DEZERNAT ZUKUNFT

Mit seiner wütenden Unterschrift setzte der US-Präsident am 30. November 2018 einem wirtschaftspolitischen Experiment ein partielles Ende, das im Nordamerika und Mitteleuropa der 1990er Jahre seinen Anfang nahm. Für Donald Trump, der an diesem Tag gemeinsam mit seinen zerknirschten Amtskollegen aus Mexiko und Kanada ein Nachfolgeabkommen zum nordamerikanischen Freihandelspakt NAFTA unterzeichnete, war das Ergebnis dieses Experiments „einer der schlechtesten Deals aller Zeiten“. Für die EU sollte es im Europawahljahr 2019 hingegen eine Ermutigung sein, wieder mehr Wirtschaftspolitik zu wagen.

Freihandelsabkommen vs. Wirtschaftsunion

Das NAFTA-Abkommen mit den USA und Mexiko einerseits sowie die EU-Erweiterung mit den vier Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Slowakei und der Tschechischen Republik (V4) andererseits stellte diese beiden Wirtschaftsräume in einem natürlichen Experiment gegenüber: Wieviel wirtschaftliche Integration, und welche Art davon, bringt mehr Wohlstand? Das „NAFTA-Labor“ lieferte für dieses Experiment die minimalistische Versuchsanordnung: Es handelte sich um ein Freihandelsabkommen, das den Abbau von tarifären und nichttarifären Handelshemmnissen vorsah und voll auf die Kraft der komparativen Handelsvorteile nach dem klassischen Nationalökonomen David Ricardo vertraute. Die Europa-, Assoziierungs- und Beitrittsabkommen der EU mit den mitteleuropäischen Transformationsstaaten bildeten dagegen das Testfeld für eine weitgehende Wirtschaftsunion, welche die vier Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarkts zusätzlich durch europäische Investitions- und Kohäsionsprogramme ergänzte.

Beim nordamerikanischen Versuchsaufbau „laissez faire á la NAFTA“ hätte das Lehrbuch des Ricardo-Lagers besagt, das bereits der bloße Freihandel zu einer wohlfahrtssteigernden Arbeitsteilung und Spezialisierung zwischen den beteiligten Volkswirtschaften führt. Moderne Handelstheoretiker wie Paul Krugman betonen hingegen, dass zusätzlich zur Marktöffnung die politische Förderung von Skalen-, Spezialisierungs- und Clustervorteilen in den betroffenen Länderbranchen sinnvoll ist, um die größten beiderseitigen Vorzüge aus dem Freihandel zu ziehen. In der EU werden diese Ziele hauptsächlich durch die großen Struktur- und Investitionsfonds (ESIF) umgesetzt, die zwischen 1989 und 2015 knapp 880 Milliarden Euro innerhalb der EU für die Entwicklung strukturschwacher Regionen, Kohäsions-, Arbeitsmarkt-, Agrar- und Fischereihilfen umverteilten. Hiervon entfielen allein auf Ungarn in den Förderperioden 2000-2006 und 2007-2013 rund 30 Milliarden Euro, verglichen mit 60 Milliarden Euro für Deutschland im selben Zeitraum.[1] Der große Gewinner dagegen ist Deutschland vor allem bei den Forschungsförderprogrammen der EU: Hier setzte sich die Bundesrepublik beim siebten Forschungsrahmenprogramm (2007-2013) und dessen Nachfolger „Horizon 2020“ mit erhaltenen EU-Investitionen für Wissenschaft, Technologie und Innovationen in Höhe von knapp 2,2 Milliarden Euro an die europäische Spitze – und weit vor die Visegrád-Staaten mit zusammengenommen unter 300 Millionen Euro in beiden Förderperioden.

Wirkung und Nebenwirkung

Während die Differenz im pro Kopf Einkommen zwischen Deutschland und den Visegrád-Staaten seit 1991 wesentlich gefallen ist, ist der Abstand zwischen Mexiko und den USA sogar etwas gestiegen.

Daten: World Development Indicators.

Eindrucksvoller wird das Experiment bei Betrachtung der Warenmärkte, zum Beispiel des mit Abstand meistgehandelten Produkts der Welt: dem Automobil.

Daten: UN COMTRADE, Atlas of Economic Complexity.

Während Mexiko seinen Weltmarktanteil bei den PKW-Ausfuhren im betrachteten Zeitraum geringfügig steigern konnte, zogen die vier Newcomer aus Mitteleuropa zusammengenommen bis zum Jahr 2016 sogar mit den USA gleich. Die Ausweitung der Automobilproduktion in Mexiko und Mitteleuropa ging zugleich keineswegs zulasten der USA und Deutschlands, welche ihre Weltmarktanteile weitgehend behaupten konnten. Auch Trumps Aussagen, NAFTA habe ungefähr eine Million Arbeitsplätze nach Mexiko exportiert, lassen sich nur schwer belegen. Brad DeLong beispielsweise verweist in diesem Zusammenhang auf Technologie und Chinakonkurrenz als wichtigere Ursachen für diese Arbeitsmarkteffekte.[2] Der Blick nach Europa zeigt: Sowohl im ungarischen Kecskemét als auch im slowakischen Bratislava bestehen heute diversifizierte Automobilcluster statt verlängerter Werkbänke, an denen nach dem dualen System ausgebildet, nach flexiblen Werkabläufen gefertigt und vereinzelt in innovativen Projekten geforscht wird, ohne dass die Stammwerke in Stuttgart oder Wolfsburg deshalb geschrumpft wären. Im Gegenteil: Gemeinhin gelten die deutschen Automobilhersteller als wettbewerbsfähiger, innovativer und standorttreuer als ihre US-amerikanischen Konkurrenten.

Auf den ersten Blick weist dieser vereinfachende Vergleich der Freihandelsräume die EU als große Gewinnerin aus – und die NAFTA-Abwicklung als beleidigte Trotzreaktion eines schlechten Verlierers. Eine genauere Betrachtung von NAFTA sollte die EU jedoch zu mehr Ehrgeiz mahnen: So stellt Harvard-Ökonom Dani Rodrik unter Verweis auf McLaren/Hakobyan durchaus lokale Lohn- und Beschäftigungseinbrüche an besonders betroffenen US-Produktionsstandorten seit dem NAFTA-Beitritt fest.[3] Die Kosten und der Nutzen von Freihandelsabkommen entfallen oft auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Irgendwo im Weißen Haus hängt NAFTA auch deshalb als Trumps Trophäe von der Wand, weil das Freihandelsabkommen geflissentlich Verteilungskonflikte ignorierte. NAFTA eignete sich somit bestens als unschuldiger Sündenbock für hausgemachte Versäumnisse. Dem Europäischen Binnenmarkt – schon heute im Visier von Lega Nord, Rassemblement National oder AfD – könnte es eines Tages ähnlich ergehen. Angesichts der wirtschaftspopulistischen Angriffe von den Rändern wäre es ein Fehler, sich auf den Lorbeeren der europäischen Erfolgsgeschichte auszuruhen; stattdessen sollte der politische Niedergang von NAFTA zu mehr Ehrgeiz in Europa ermahnen.

Acht Gedanken, warum der Europäische Binnenmarkt nicht populismusfest genug ist:

  1. Der Europäische Binnenmarkt ist zu starr für die Stärkeren: Die EU sollte ihre strengen Beihilferegeln für fiskalisch solide Innovationsführer wie Deutschland oder Schweden lockern, damit diese leichter in die Schließung von hochtechnologischen Fähigkeitslücken (z.B. Batterietechnologie, KI) investieren können.
  2. Der Europäische Binnenmarkt ist zu schlaff für die Schwächeren: Die EU sollte Mindeststandards bei Löhnen, Arbeitnehmerrechten und Sozialleistungen verhandeln, um ruinösen Standortwettbewerb durch Lohn- und Sozialdumping zu verhindern. Ein aktuelles Beispiel ist die umstrittene Überstundengesetzgebung in Ungarn, die dem Vernehmen nach auf das direkte Drängen der deutschen Automobilhersteller zurückging.
  3. Der Europäische Binnenmarkt ist zu großzügig bei den Falschen: Die EU sollte die Gemeinsame Agrarpolitik grundlegend überarbeiten, um einen möglichst zweistelligen Milliardenbetrag für Zukunftsinvestitionen in anderen EU-Politikfeldern freizumachen.
  4. Der Europäische Binnenmarkt ist zu kleinteilig bei den Richtigen: Die EU sollte ihre M&A- und Wettbewerbskontrollen auf klaren Käufermärkten (z.B. Telekommunikation) lockern und stärker auf den Gesamtbinnenmarkt statt auf nationale Märkte ausrichten, damit europäische Unternehmen bestimmter Branchen durch Zusammenschlüsse Größenvorteile gegenüber ihren US-amerikanischen und chinesischen Wettbewerbern heben können.
  5. Der Europäische Binnenmarkt braucht weniger Bürokratie: Die Antragstellung für die europäischen Struktur- und Investitionsfonds ist aus Sicht reicher Mitgliedstaaten und Regionen ein bürokratischer Albtraum, der vielerorts kaum noch den behördlichen Aufwand rechtfertigt, und in ärmeren Mitgliedsstaaten und Regionen ein lukrativer und schwer zu kontrollierender Markt für unzählige „Berater“ und andere windige Antragsteller mit zweifelhaften Projektvorhaben. Die EU sollte ihre Förderinstrumente dauerhaft um wettbewerbliche Ausschreibungen im Stil eines „DARPA“ und um ein echtes Investitionsbudget erweitern.
  6. Der Europäische Binnenmarkt braucht mehr Rechtstaatlichkeit: Regierungen in Ungarn und Polen, deren Volkswirtschaften vielfältig vom Europäischen Binnenmarkt und von den europäischen Struktur- und Investitionsfonds profitierten, untergraben durch Worte und Taten die demokratischen und rechtstaatlichen Normen der EU und schüren damit den Frust in anderen EU-Mitgliedsstaaten. Die EU sollte neben politischen auch wirtschaftliche Sanktionen bei schwerwiegenden Rechtstaatsverstößen vorsehen.
  7. Dem Europäischen Binnenmarkt fehlen Dienstleistungen: Die EU sollte eine europaweite digitale Plattform für Dienstleistungsausschreibungen entwickeln, entschieden gegen grenzüberschreitende Handelshemmnisse im Dienstleistungsverkehr vorgehen und die öffentliche Beschaffung bei Dienstleistungen weiter öffnen, um die europäischen Dienstleistungsmärkte auf Augenhöhe mit den Warenmärkten zu bringen.
  8. Dem Europäischen Binnenmarkt fehlen Spitzenleistungen: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“ – Diese Feststellung Jacques Delors ist unverändert richtig. Werden europäische Raumfahrtunternehmen den Mars besiedeln, europäische Pharmaunternehmen AIDS besiegen oder europäische Programmierer die sichere generelle KI entwickeln? Die EU sollte ambitionierte „Moonshot“-Vorhaben fördern, welche europäische Stärken bündeln und als europäische Identifikationsprojekte taugen.

Selbstzufriedenheit und Stagnation der europäischen Wirtschaftspolitik sähen die Saat für Wirtschaftspopulisten, die sich im Europa-Wahljahr 2019 für zukünftige Ernten warmlaufen werden. Wenn die EU nicht als Transferunion von Löhnen, Arbeitsplätzen und Arbeitnehmerrechten aus Hochlohn- in Niedriglohnländer wahrgenommen werden will, dann muss sie sich politisch weiterentwickeln. NAFTA hatte es seinen politischen Gegnern zu leichtgemacht, die EU sollte es ihren eigenen möglichst schwermachen. Dazu muss Europa wieder mehr Wirtschaftspolitik wagen.


[1] https://cohesiondata.ec.europa.eu/stories/s/Historic-EU-payment-data-by-region-NUTS-2-/47md-x4nq

[2] https://www.vox.com/the-big-idea/2017/1/24/14363148/trade-deals-nafta-wto-china-job-loss-trump

[3] https://rodrik.typepad.com/dani_rodriks_weblog/2017/01/what-did-nafta-really-do.html

Bild: Pixabay.

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