Welcher Lohn erlaubt einen angemessenen Lebensstandard?
Levi Henze, Janek Steitz
In Deutschland gibt es keine Erhebung für einen normativen Einkommensstandard – eine Wissenslücke, die wir besonders in krisengeprägten Zeiten für fatal halten. In einer Kooperation mit dem Zentrum Neue Sozialpolitik erarbeiten wir ein methodisch robustes Vorgehen für eine solche Erhebung. Diese Erhebung ist inspiriert vom britischen Minimum Income Standard. Für den Geldbrief haben wir die Zahlen aus Großbritannien in deutsche Preise übersetzt, mithilfe derer wir die Einkommenssituation in Deutschland vorläufig einordnen. Ein Fazit: Der Mindestlohn reicht nicht, um in Deutschland ein angemessenes Maß an Lebensqualität zu erreichen.
Zwei schwere Wirtschaftskrisen liegen hinter uns. Das Land steckt in einer Rezession. Und vor uns liegt ein historisch beispielloser Umbau der Energie- und Industriestruktur sowie des Gebäudebestands. Dies sind Umstände, in denen Menschen sich vermehrt Sorgen um ihre wirtschaftliche Situation machen. Denn: Rund 50 Prozent der Deutschen haben keine Rücklagen.
Wir haben uns deshalb gefragt, welches Einkommen notwendig ist, um in diesen Zeiten einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen. Wir mussten feststellen: Einen solchen normativen Einkommensstandard gibt es derzeit in Deutschland nicht. Das wollen wir ändern!
Mit unserem Projektpartner Zentrum für neue Sozialpolitik entwickeln wir derzeit eine neuartige Methode, um diese Frage zu beantworten. Wir wollen einen breit akzeptierten Einkommensstandard erheben: Das Lebensqualitätsminimum. Dabei sollen die zwei gängigen Ansätze, die Statistik- und die Warenkorbmethode, miteinander kombiniert werden, um die jeweiligen Vorteile auszunutzen.[1] Als Inspiration für das Projekt diente uns der britische Minimum Income Standard (kurz: MIS), der seit fast zwei Jahrzehnten die sozial- und arbeitsmarktpolitische Debatte in Großbritannien mitprägt.
Um abzuschätzen, wie das Lebensqualitätsminimum aussehen könnte, haben wir vier der in Großbritannien erhobenen Warenkörbe übersetzt und auf aktuelle deutsche Preise übertragen. Grundidee dieser Übersetzung ist, dass die jahrelange Erfahrung im britischen MIS-Projekt auch für Deutschland relevant ist, da die Fokusgruppen analoge Entscheidungen zu einem angemessenen Lebensstandard treffen müssen. Trotzdem: Das Folgende bleibt eine grobe Näherung, kein Ersatz für eine eigene Erhebung. Wer mehr zum methodischen Vorgehen erfahren will, wird hier fündig. [2]
Fast jeder dritte Haushalt in Deutschland kann sich kein angemessenes Leben leisten
Eines sei Vorweg gesagt: Die Haushaltsbudgets des MIS umfassen ein bescheidenes und sparsames Leben, keinen Luxus. Es soll so günstig wie möglich eingekauft werden, es gibt keine Auslandsreisen und nur für Familien wird ein (gebrauchter) PKW vorgesehen. Soziale Teilhabe wird in Maßen ermöglicht: Ein Kino- oder Theaterbesuch im Monat, günstige Endgeräte für den Zugang zu Internet und Medien. Es geht also darum, ein Minimum an Lebensqualität sicherzustellen. Unberücksichtigt bleiben auch absehbare zukünftige Belastungen, wie etwa der Wechsel zu klimaneutraler Beheizung, oder notwendige Rücklagen für Krisen.
Doch nun zu den Zahlen: Insgesamt ergeben sich für einen Singlehaushalt 1.740 Euro Ausgabenbedarfe im Monat, für einen Paarhaushalt 3.199 Euro, für einen Familienhaushalt mit zwei Kindern 4.012 Euro und für eine alleinstehende Rentnerin 1.819 Euro. Verglichen mit der aktuellen Einkommensverteilung in Deutschland zeigt sich, dass ein Großteil der Menschen mit viel weniger auskommen müssen. Etwa 36 Prozent der Singlehaushalte in Deutschland leben aktuell mit weniger als dem MIS-Budget. Für Paare liegt dieser Anteil bei 29 Prozent, für Familien bei 27 Prozent und für Rentner:innen bei 31 Prozent.[3]
Bei typischer Erwerbsarbeitszeit reicht der Mindestlohn nicht
Um die MIS-Budgets auch mit den Lohnverhältnissen in Deutschland vergleichen zu können, haben wir diese Nettobedarfe in Bruttolöhne übersetzt (siehe Abbildungen 1 und 2). Für den Singlehaushalt würde aktuell ein Bruttoeinkommen von 2.467 Euro nötig, für die Rentnerin 2.214 Euro, und für den Paarhaushalt 2.224 Euro pro Kopf, wenn beide Personen gleich verdienen. Für den Familienhaushalt ist es etwas komplizierter: Ohne jegliche Transferleistungen müssten beide Elternteile 2.898 Euro verdienen, um das MIS-Budget zu erreichen. Werden Kindergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag berücksichtigt, wären bei beispielhafter Berechnung nur 1.515 Euro Bruttolohn pro Person nötig.[4]
Abbildung 1
Für einen Vergleich mit dem gesetzlich garantierten Lohnniveau sollte zusätzlich die haushaltstypische Wochenarbeitszeit berücksichtigt werden. Im Durchschnitt arbeiten Menschen in Deutschland 34,3 Stunden pro Woche, für Frauen liegt dieser Wert bei 30,5 Stunden und für Eltern bei 25,2 Stunden. Bei typischer Erwerbsarbeitszeit ist keines der Haushaltsbudgets mit dem aktuellen Mindestlohn von 12,82 Euro erreichbar. Für eine alleinstehende Person mit durchschnittlicher Erwerbsarbeitszeit wäre ein Stundenlohn von 16,60 Euro nötig. Bei einem gleich verdienenden Paar wären es 14,96 Euro. Und selbst eine vierköpfige Familie müsste trotz Transferleistungen einen durchschnittlichen Stundenlohn von 14,04 Euro erzielen.
Selbst bei voller Erwerbsarbeitszeit, die für die meisten Haushalte kaum mit dem Alltag vereinbar ist, würde eine Beschäftigung zum Mindestlohn nicht ausreichen. Beim Singlehaushalt läge ein ausreichender Stundenlohn bei 14,23 Euro, beim Paarhaushalt bei 12,83 Euro. Beim Familienhaushalt ermöglicht der Mindestlohn das Erreichen des MIS-Budgets – allerdings nur, wenn beide Haushalte annähernd in Vollzeit arbeiten und alle Leistungsansprüche (Wohngeld und Kinderzuschlag) beantragt werden. Erhebungen zeigen, dass beides im Durchschnitt nicht der Fall ist.
Abbildung 2
Fast jede zweite Familie mit Lohneinkommen verdient weniger
Fragen wir danach, wie viele Menschen aktuell mit weniger Lohneinkommen auskommen müssen, sieht das Bild nicht viel besser aus. Eine Auswertung auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstatistik 2018, die im Zuge des Projekts Lebensqualitätsminimum durchgeführt wurde, zeigt, dass etwa 27 Prozent der abhängig Beschäftigten Singlehaushalte weniger verdienen als das MIS-Budget des Singlehaushalts. Ähnlich ist es bei Paarhaushalten mit mindestens einem abhängig Beschäftigten Haushaltsmitglied: etwa 25 Prozent dieser Haushalte verdienen weniger. Bei den Familienhaushalten mit entsprechendem Beschäftigungsverhältnis erreichen sogar 46 Prozent nicht das MIS-Familienbudget und müssen mit weniger auskommen, oder ihre Bedarfe anderweitig decken.[5]
Die Altersrente deckt das Budget nur für eine gutverdienende Minderheit
Beim Rentner:innenhaushalt vergleichen wir in Abbildung 3 das MIS-Budget mit der aktuellen Nettodurchschnittsrente. Nach Daten der Deutschen Rentenversicherung erhalten Renter:innen aktuell 1.441 Euro, was 79 Prozent des Renter:innenbudgets entspricht. Die Durchschnittsrente von Frauen liegt mit 1.237 Euro deutlich darunter und deckt nur 68 Prozent des MIS-Budgets ab. Eine beispielhafte Rentenberechnung kann verdeutlichen, wie schwer es ist, dieses Budget aus der Altersrente zu finanzieren. Um das MIS-Budget bei Renteneintritt im Jahr 2025 und 43 Beitragsjahren zu decken, wäre zum Jahresende 2024 ein Bruttojahresverdienst von fast 75.000 Euro notwendig.[6] Etwa 89% der Alleinlebenden im Erwerbsalter verdienen heute weniger, könnten also nach dieser vereinfachten Rechnung das MIS-Budget nicht aus der Altersrente decken.
Abbildung 3
Eine vorsichtige Näherung
Natürlich lassen diese Zahlen nur begrenzt Aussagen darüber zu, ob Menschen die Einkommenssituation in Deutschland als fair und angemessen empfinden. Die Übersetzung, die wir hier vorstellen, kann keine eigene Erhebung für Deutschland ersetzen. Genau deshalb entwickeln wir für das Lebensqualitätsminimum einen solchen Ansatz und testen die Belastbarkeit in Fokusgruppen. Im zweiten Quartal 2025 erscheint im Rahmen des Projekts Lebensqualitätsminimum ein gesonderter Methodenbericht dazu. Erste Ergebnisse aus unserem Projekt zeigen, dass Menschen in Deutschland qualitativ durchaus vergleichbare Einstellungen zu einem angemessenen Lebensstandard haben, wie in Großbritannien. Insofern sind unsere Berechnungen als vorläufige Näherung und Auftakt zur Debatte zu verstehen: Wir sind sicher, dass das Leben in Deutschland von vielen nicht als gerecht empfunden wird. Diese Tatsache bietet sozialen Sprengstoff – ganz besonders in krisengeprägten Zeiten.
Unsere Leseempfehlungen:
- Maximilian Probst diskutiert in der Zeit, warum es auch für Klimapolitik entscheidend ist, den sozialen Zusammenhalt zu betonen und den Eindruck eines Elitenprojekts zu verhindern.
- In einem Focus Paper für die Bertelsmann-Stiftung zeigen Sara Holzmann und Frederik Digulla, wie ein sozial besser ausgewogener und akzeptanzfördernder Policy Mix aussehen kann.
- Ein neues Working Paper von A. Bilal & D. Känzig zeigt auf Basis einer neuen Schätzmethode für Klimaschäden, dass sich ein Großteil der Emissionsreduktionen für die EU und die USA selbst dann lohnt, wenn der Rest der Welt nicht mitmacht.
Fußnoten
[1] Mehr zum entwickelten methodischen Vorgehen für eine Erhebung des Lebensqualitätsminimum gibt es hier.
[2] In aller Kürze zusammengefasst nutzen wir die detailliert zusammengestellten Warenkörbe aus Großbritannien und übersetzen dieses Mengengerüst mittels Online-Recherche in ein aktuelles deutsches Preisgerüst. Entscheidungen darüber, wo Haushalte einkaufen, und welche Mengen bestimmter Waren oder Dienstleistungen teil eines angemessenen Lebensstandards sind, wurden dafür so genau wie möglich auf Deutschland übertragen.
[3] Alle Berechnungen zu den Nettoeinkommen sind überschlägig und basieren auf dem Einkommensrechner des Instituts der deutschen Wirtschaft. Es wird eine homogene Lohnentwicklung entlang der Einkommensdezile bis zum aktuellen Rand unterstellt, da dieser auf SOEP-Daten von 2017 basiert. Zu beachten ist, dass die Vergleichsgruppen der Familien und der Renter:innen Haushalte mit abweichender Anzahl von Haushaltsmitgliedern einschließen.
[4] Unsere Berechnung des Wohngelds geht von einer durchschnittlichen Mietenstufe und der den Durchschnittlichen Wohnkosten der gesellschaftlichen Mitte aus, was im Mittel die Situation der Haushalte in Deutschland bei entsprechender Einkommenssituation treffen sollte. Näheres zur Berechnung gibt es hier.
[5] Bei diesem Vergleich gehen wir von einer gleichmäßigen Lohnentwicklung seit Erhebung der Einkommens- und Verbrauchsstatistik 2018 aus, analog zu den anderen Berechnungen.
[6] Es handelt sich hierbei um eine Überschlagsrechnung: Wir nehmen einen regulären Renteneintritt, sowie reguläre Ausbildungs- und Wehr- bzw. Zivildienstzeit an. Die Bruttorente, um das MIS-Nettobudget zu erzielen, beträgt 2.214 Euro. Um diese Rente zu bekommen, wäre über die Erwerbszeit ein Durchschnittsverdienst von etwa 55.600 Euro pro Jahr nötig gewesen. Bei einer unterstellten jährlichen Lohnsteigerung von 1,5 Prozent entspricht dies einem heutigen Gehalt von 74.726 Euro.
Medienrück- und Veranstaltungsausblick 23.01.24
- Rückblick
- Am 25.12.2024 erschien bei Focus Online ein Interview mit Philippa Sigl-Glöckner zu finanziellen Spielräumen innerhalb der Schuldenbremse.
- Am 27.12.2024 erschien ein Gastbeitrag von Philippa Sigl-Glöckner bei Media zu den Lehren für die deutsche Finanzpolitik aus dem Niedergang von Nokia.
- Am 06.01.2025 gab Max Krahé in der Telebörse von N-TV ein Interview zu den aktuellen Inflationszahlen.
- Am 11.01.2025 war Philippa Sigl-Glöckner zu Gast im Deutschlandfunk Kultur und diskutierte mit der Juristin Julia Jirmann Möglichkeiten zur gerechteren Ausgestaltung des deutschen Steuersystems.
- Am 11.01.2025 zitierte die taz Levi Henze zum EU Emissions Trading System 2 (ETS 2).
- Am 14.01.2025 war Vera Huwe zu Gast bei der ersten Spezialausgabe der Planetary Health Dialogues zur Bundestagswahl des Centre for Planetary Health Policy (CPHP). Dabei diskutierte sie gemeinsam mit Johanna Gary (Diakonie Deutschland) unter der Moderation von Dorothea Baltruks (Leiterin des CPHP) die Visionen der Parteien für die Bundestagswahl hinsichtlich planetarer Gesundheit.
- Am 14.01.2025 zitierte die taz Levi Henze zu politischen Vorschlägen, das Erreichen der Klimaneutralität in Deutschland von 2045 auf 2050 zu verschieben.
- Am 15.01.2025 zitierte der BR Florian Schuster-Johnson zur deutschen Wachstumsschwäche und der Reform der Schuldenbremse.
- In einem am 16.01.2025 veröffentlichen Audiobeitrag des Deutschlandfunks beschreibt Nils Gerresheim die Schwächen von (geplanten) Mikrochip-Subventionen.
- In einem am 16.01.2025 erschienen Gastbeitrag im Spiegel (Paywall) verwiesen die Autor:innen Christian Mölling und Claudia Major auf die Studie des Dezernats zu öffentlichen Finanzierungsbedarfen in Deutschland bis 2030.
- Am 20.01.2025 verkündete die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), den Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik 2025 an Philippa Sigl-Glöckner für ihr Buch „Gutes Geld: Wege zu einer gerechten und nachhaltigen Wirtschaft“ zu verleihen. Die Preisverleihung findet am 08.04.2025 ab 18:30 Uhr statt und kann per Livestream verfolgt werden.
- Ausblick
- Am 30.01.2025 findet ab 18 Uhr im Büro des Dezernats das Event „Dough for Defence“ statt. Dabei wird Claudia Major (Verteidigungsexpertin, Stiftung Wirtschaft und Politik) über die globale sicherheitspolitische Lage sprechen; moderiert wird von Dr. Max Krahé. Im Anschluss besteht die Möglichkeit zum informellen Austausch bei Pizza und Getränken. Die Anmeldung zum Event ist unter folgendem Link möglich.
Der Geldbrief ist unser Newsletter zu aktuellen Fragen der Wirtschafts- Fiskal- und Geldpolitik. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns. Zusendung an levi.henze[at]dezernatzukunft.org
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