Mehr Mindestlohn, mehr Würde, weniger Marktversagen

Dieser Geldbrief blickt auf den Mindestlohn: seine Geschichte, Wirkweise und mögliche Zukunft. Die Kernbotschaften: Bisher war der Mindestlohn eine große Erfolgsgeschichte. Dieser Erfolg hat weite Teile der VWL überrascht. Er geht darauf zurück, dass sich Arbeitsmärkte als vermachteter und reicher an Marktversagen herausgestellt haben, als viele vorher dachten. In Zukunft könnte es lohnenswert sein, schrittweise einen Mindestlohn von 16 Euro anzustreben.

Die Zukunft der Löhne: Eine Prognose von Thorsten Hild

In seinem Papier untersucht Thorsten Hild eine Reihe von Einflussfaktoren auf die Lohnentwicklung, darunter die Preisentwicklung, Arbeitslosigkeit und Konjunktur, die Arbeitsproduktivität, Stärke und Strategie der Gewerkschaften, sowie den gesetzlichen Mindestlohn. Nach Abwägung dieser Faktoren und einer Sichtung der Prognosen des Sachverständigenrats und des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz kam er zu dem Schluss, dass die Löhne 2022 um knapp 4% und 2023 um gut 3% wachsen werden. Auch wenn die Inflationsraten für 2022 und 2023 noch einer erheblichen Unsicherheit unterliegen ist damit klar: Die Reallöhne werden höchstwahrscheinlich sinken. Dabei betont Thorsten Hild gleichzeitig, dass seine quantitative Prognose vor allem zur Orientierung dient und nicht zwingend zielführender ist, als die allgemeine, qualitative Prognose und die ihr zugrunde liegenden Zusammenhänge die er in seinem Papier entwickelt. Dieser Beurteilung können wir uns nur anschließen: Wir empfehlen die Lektüre des ganzen Papiers.

Wie sieht ein guter Arbeitsmarkt aus?

Die Analyse des deutschen Arbeitsmarkts läuft in der öffentlichen Debatte in erster Linie über die Betrachtung der Arbeitslosenquote. Ist diese so niedrig wie in den vergangenen Jahren, wird gerne von einem Zustand der Vollbeschäftigung gesprochen. Dieser ist aber nur bedingt aussagekräftig: die Arbeitslosenquote gibt nicht an, ob die Arbeit den Menschen entspricht oder ihnen eine Leben in Würde ermöglicht. Sie gibt also wenig Auskunft darüber, ob das Potenzial des Arbeitsmarkts ausgeschöpft ist. In Zeiten von Fachkräftemangel und demografischem Wandel reicht eine reine Betrachtung der Arbeitslosenquote nicht mehr aus.

Der deutsche Arbeitsmarkt: Wind in den Segeln – aber ein Datenleck

Der deutsche Arbeitsmarkt scheint seit langem ein Selbstläufer zu sein. Die Arbeitslosenquote ist konstant gering. Reißt sie krisenbedingt einmal aus, bleibt es bei kurzbebenartigen Momentaufnahmen, die — auch dank aktiver arbeitsmarktpolitischer Unterstützung — schnell wieder der Vergangenheit angehören.

Die Arbeitsmarktampel

Der deutsche Arbeitsmarkt wird — außerhalb von Expertenkreisen — oft auf die Arbeitslosenquote
reduziert. Ist diese so niedrig wie in den vergangenen Jahren, wird gerne von Vollbeschäftigung
gesprochen. Doch diese Betrachtung greift zu kurz: Die Arbeitslosenquote gibt nicht an, ob
die Arbeit den Menschen entspricht, ihre Fähigkeiten optimal oder auch nur gut nutzt, oder ihnen
ein Leben in Würde ermöglicht. Sie gibt also wenig Auskunft darüber, ob das Potenzial des Arbeitsmarkts
ausgeschöpft ist und ob er ein gutes Leben ermöglicht. In Zeiten von Fachkräftemangel und
demografischem Wandel, Prekarisierung und großem Niedriglohnsektor, reicht eine reine
Betrachtung der Arbeitslosenquote nicht mehr aus.

Überstürzte Zinserhöhungen treffen vor allem die Jungen

Zinserhöhungen kommen mit Wohlstandseinbußen und treffen junge Menschen am härtesten. Wenn in der Debatte um die Zinspolitik vor allem diejenigen zu Wort kommen, die kein Arbeitsplatzrisiko haben, aber von niedrigeren Löhnen für junge Menschen sogar profitieren würden, dann droht eine schiefe Debatte. Anreize sind bei ökonomischen Fragestellungen immer relevant – auch in der Frage, wie vorsichtig die Geldpolitik agieren sollte, wenn die Kosten der Vorsicht nicht von allen in gleicher Weise getragen werden müssen.

Ein guter Ausblick für 2022? Der Arbeitsmarkt zieht auf seinem Erholungskurs an der Jugend vorbei

Die gestiegene Arbeitslosigkeit und die umfangreichen staatlichen Hilfspakete haben allerdings weitreichende fiskalische Implikationen: während allein das konjunkturelle Kurzarbeitergeld 2020 mit 22,1 Milliarden Euro zu Buche schlug, ermittelte das IAB, dass die Kosten der Arbeitslosigkeit sich 2020 insgesamt auf 62,8 Milliarden Euro beliefen. Dennoch: Die Investitionen in konjunkturstabilisierende Arbeitsmarktpolitik zahlen sich bereits aus und so konnte die Bundesagentur für Arbeit (BA) das Jahr 2021 positiv abschließen: „Der Arbeitsmarkt blieb bis in den Dezember auf seinem Erholungskurs.“

A new fiscal policy for Germany

The sustainability of public finances should be measured by the debt-to-GDP ratio; the debt-to-GDP ratio is best controlled by keeping the deficit in check. For decades, these ideas shaped German fiscal policy. In 2009, with the introduction of the debt brake, this approach found its way into the German constitution.

Recent research, however, has shown that this paradigm yields suboptimal results in the current environment: It neither ensures the long-term sustainability of public finances, nor limits external imbalances, nor effectively contributes to solving the challenges Germany faces today, in particular decarbonisation and demographic change. As this is increasingly being recognised, a lively debate on the future of fiscal rules has developed, both in Germany and internationally. This working paper contributes to that debate by developing reform ideas that depart from a positive goal for fiscal policy rather than from the deficiencies of the current rules.

70 Milliarden Euro für unsere Zukunft – Eine neue deutsche Finanzpolitik

Letzte Woche haben wir beim Forum New Economy unsere Vorschläge für eine neue deutsche Finanzpolitik veröffentlicht. Unser Kernargument: zukunftsfähige Staatsfinanzen hängen heute an einer produktiven Wirtschaft und einem vollausgelasteten Arbeitsmarkt, nicht mehr am Erreichen einer bestimmten Schuldenquote.  In diesem Dezernatsbrief fassen wir unsere Vorschläge, wie zukunftsfähige Finanzpolitik in der Praxis aussehen könnte, knapp und übersichtlich zusammen.

Eine neue deutsche Finanzpolitik

Über Jahrzehnte war die deutsche Fiskalpolitik von der Idee geprägt, dass die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen an der Schuldenquote zu messen sei die Schuldenquote wiederum sei; am besten über das jährliche Haushaltsdefizit zu kontrollieren. Mit der Einführung der Schuldenbremse fand dieser Ansatz 2009 Eingang in die deutsche Verfassung. Die neuere Forschung hat jedoch herausgearbeitet, dass dieses Paradigma im heutigen Kontext zu suboptimalen Ergebnissen führt: Insbesondere gewährleistet es weder die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen noch ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht noch einen effizienten Beitrag zur Lösung der heute vor uns stehenden Herausforderungen, insbesondere der Dekarbonisierung und des demographischen Wandels. Eine wachsende Erkenntnis dieser Tatsache hat sowohl in Deutschland als auch international zu einer lebhaften Debatte über die Zukunft von Fiskalregeln geführt. Dieses Working Paper baut auf der Debatte auf und geht einen Schritt weiter indem es nicht von den Unzulänglichkeiten des heutigen Paradigmas, sondern von einer positiven Zielsetzung aus in Richtung neuer Reformideen denkt. Einführend geben wir einen Überblick zum Stand der Diskussion um Alternativen und Reformen der Schuldenbremse. Anschließend werden drei eng miteinander verknüpfte Fragen beantwortet: was ist die richtige Zielsetzung für Fiskalpolitik? Wie könnte ein institutionelles Rahmenwerk aussehen, um diese Zielsetzung in die Praxis umzusetzen? Und welche konkreten, politisch realistischen Reformoptionen könnten uns in diese Richtung bewegen? Dabei identifizieren wir nachhaltige Vollauslastung der Wirtschaft als sinnvolles Ziel für Fiskalpolitik; machen einen Vorschlag für ein viergliedriges Rahmenwerk, und entwickeln detaillierte Vorschläge für erste Reformschritte mit denen dieses Rahmenwerk in Deutschland umgesetzt werden könnte, darunter eine Anpassung der einfachgesetzlich geregelten Konjunkturkomponente der Schuldenbremse, die Einführung einer Investitionsgesellschaft für kommunale Investitionen, sowie die Einführung eines Frühwarnindikators für Zinskosten.

Mit Hochdruck zum Erfolg – Gastbeitrag von Jean Pisani-Ferry

Jean Pisani-Ferry ist der Lehrstuhlinhaber des Tommaso Padoa Schioppa Lehrstuhls am European University Institute. Er ist außerdem Senior Fellow bei Bruegel, einem europäischen Think Tank, und Non-Resident Senior Fellow am Peterson Institute (Washington DC), sowie Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Sciences Po (Paris). Im Jahr 2017 trug er zu Emmanuel Macrons Präsidentschaftskandidatur als Direktor für Programmatik und Konzepte seiner Wahlkampagne … Read More