Regeln sind nicht alles – wieso die Diskussion um die Schuldenbremse zu kurz greift
LUKAS HAFFERT
Pünktlich zu ihrem zehnten Geburtstag ist in Deutschland eine heftige Debatte über Sinn und Unsinn der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse ausgebrochen. Anlass für diese Debatte ist, dass der Staat aus Sicht vieler Kommentatoren noch immer zu wenig investiert. Zwar attestiert sich etwa die Bundesregierung Jahr für Jahr neue Rekordinvestitionen. Tatsächlich sind die öffentlichen Investitionen jedoch nur unwesentlich schneller gewachsen als das Bruttoinlandsprodukt, sodass sich die Investitionsquote kaum erhöht hat. Der dadurch entstandene Investitionsstau ist für Bahnfahrer, Studenten oder Internetnutzer mit Händen zu greifen.
Kritiker der Schuldenbremse wie Jens Südekum, Marcel Fratzscher oder Michael Hüther sehen die Vorgaben der 2009 beschlossenen Fiskalregel als eine wichtige Ursache für diesen Investitionsstau. Kurz zusammengefasst argumentieren diese Autoren, der Staat solle die momentan – und voraussichtlich dauerhaft – sehr niedrigen Zinsen nutzen, um eine deutliche Erhöhung der Investitionen durch eine gewisse Nettoneuverschuldung zu finanzieren. Die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form hindere ihn jedoch daran.
Hauptschuldiger Schuldenbremse?
Tatsächlich werben diese Kritiker mit überzeugenden Argumenten für höhere Investitionen und deren Schuldenfinanzierung: Der Mangel an öffentlichen Investitionen ist ein offensichtliches Problem, für das eine höhere Staatsverschuldung eine naheliegende Lösung bietet. Darüber hinaus würde eine solche Politik auch zu einem ohnehin wünschenswerten Abbau des gewaltigen deutschen Außenhandelsüberschusses beitragen. Es stellt sich also in der Tat die Frage, warum der deutsche Staat sie nicht längst verfolgt.
Ob die Antwort auf diese Frage allerdings in erster Linie im Bereich der fiskalischen Regeln zu finden ist, daran darf man gewisse Zweifel haben. Indem sich die Kritiker der deutschen Fiskalpolitik so stark auf die Schuldenbremse konzentrieren, verengen sie die Debatte insofern in unglücklicher Weise. Insbesondere übernehmen sie implizit die Grundannahme der Befürworter der Schuldenbremse, der Schlüssel zu guter Fiskalpolitik liege primär in einem System geeigneter fiskalischer Regeln.
Diese Annahme liegt natürlich der Schuldenbremse selbst zugrunde: Demnach sei die Staatsverschuldung seit den 1970er-Jahren vor allem deshalb gestiegen, weil zu laxe fiskalische Regeln die Ausgabefreude der Politik nicht hinreichend disziplinierten. Die Lösung für das Problem der übermäßigen öffentlichen Verschuldung seien also Regeln, die Verschuldung verhindern. Die Kritiker der Schuldenbremse argumentieren nun strukturell ganz ähnlich: Der Mangel an öffentlichen Investitionen sei das Ergebnis einer missglückten fiskalischen Regel – eben der Schuldenbremse – also liege der Schlüssel zu höheren Investitionen ebenfalls in besseren Regeln.
Es geht darum, was der Staat will, nicht nur was er darf
Dabei zeigt der Blick auf andere Länder, dass fiskalische Regeln allenfalls einer von mehreren Gründen dafür sind, warum eine nominell sehr gute Haushaltslage nicht mit einer spürbaren Ausweitung der öffentlichen Investitionen einhergeht. Deutschland ist nämlich keineswegs das erste oder einzige Land, das für einen längeren Zeitraum andauernde Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet. So erzielten seit Mitte der 1990er-Jahre so unterschiedliche Länder wie Australien, Dänemark, Finnland, Kanada, Neuseeland, und Schweden für etwa ein Jahrzehnt strukturell ausgeglichene Haushalte und zum Teil sogar noch deutlich höhere Haushaltsüberschüsse, als das heute in Deutschland der Fall ist.
Die Erfahrungen dieser Länder spielen in der deutschen Debatte jedoch kaum eine Rolle. Dabei könnte ein Vergleich mit ihnen die Perspektive auf mögliche Ursachen der deutschen Investitionsschwäche deutlich erweitern. Denn auch in diesen Ländern blieb die Entwicklung der öffentlichen Investitionen trotz der Überschüsse hinter den Erwartungen zurück. Insbesondere gelang es ihnen nicht, die in den vorhergehenden Haushaltskonsolidierungen erfolgten Kürzungen ihres Investitionsetats wieder rückgängig zu machen.
Es ist unwahrscheinlich, dass sich diese länderübergreifende Investitionsschwäche auf eine bestimmte Form fiskalischer Regeln zurückführen lässt. Zwar hatten auch diese Länder das institutionelle Korsett ihrer Fiskalpolitik reformiert. Dabei unterschieden sich die neuen Fiskalregeln in Bezug auf ihren Inhalt, vor allem aber in Bezug auf den Grad ihrer Formalisierung und möglichen Sanktionierung jedoch ganz erheblich. So setzten Australien und Neuseeland vor allem auf neue Transparenzregeln, während Finnland und Schweden Ausgaberegeln einführten und Kanada sogar weitgehend auf neue formelle Regeln verzichtete.
Vor allem aber waren die institutionellen Reformen nur ein Element einer sehr viel umfassenderen Neuausrichtung der Fiskalpolitik dieser Länder. Diese Neuausrichtung betraf das gesamte „fiskalische Regime“, also neben den formellen Institutionen auch die vorherrschenden Ideen über die Aufgaben der Fiskalpolitik und die Interessen, deren Erfüllung unterschiedliche Gruppen von der Fiskalpolitik erwarten. Während fiskalische Regeln vor allem die Frage „Was darf der Staat tun?“ beantworten, wurden in diesen Ländern also auch die Fragen „Was trauen wir dem Staat zu?“ und „Wer braucht den Staat wofür?“ neu gestellt.
Die zentrale Rolle von Vertrauen in und Interesse an staatlichen Investitionen
Die Entwicklung der öffentlichen Investitionen hängt aber eben nicht nur mit der Entwicklung der fiskalischen Regeln zusammen, sondern auch damit, wie die beiden letztgenannten Fragen beantwortet werden. So können mangelnde Investitionen ein Ausdruck davon sein, dass die Erwartungen an die Leistungsfähigkeit des Staates gesunken sind. Wie Studien von Alan Jacobs und Scott Matthews gezeigt haben, ist die Unterstützung für Infrastrukturinvestitionen in der amerikanischen Bevölkerung umso grösser, je mehr Vertrauen die Befragten der für die Investition zuständigen Regierungsebene entgegenbringen[1]. Ein verändertes Bild von der Leistungsfähigkeit staatlicher Akteure kann also direkt auf die Zustimmung zu Investitionsprojekten durschlagen.
Mangelnde Investitionen können aber auch damit zusammenhängen, dass politisch relevante Interessengruppen für die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse nicht mehr auf den Staat angewiesen sind. So erzeugt die (Teil-)Privatisierung öffentlicher Leistungen, etwa im Bildungsbereich, ja regelmäßig auch Privatisierungsgewinner, die dann wenig Interesse an einer Wiederausweitung der Rolle des Staates haben. Das macht es entsprechend schwieriger, politische Koalitionen für mehr staatliche Investitionen zu bilden.
Wer nach den Gründen für die anhaltende deutsche Investitionsschwäche sucht, sollte also auch Interessen und Ideen in den Blick nehmen und danach fragen, inwiefern sich in Deutschland ähnliche Prozesse beobachten lassen. Dabei sind diese von der Schuldenbremse nicht zwingend unabhängig. So ist es durchaus möglich, dass die Schuldenbremse, indem sie der Vorstellung, der Staat könne nicht mit Geld umgehen und müsse durch strenge Regeln beschränkt werden, zu einem Verlust von Vertrauen in die staatliche Leistungsfähigkeit beiträgt. Mindestens ebenso sehr wie eine Ursache ist sie aber selbst eine Folge eines solchen veränderten Staatsbildes.
Die Diskussion über die Schuldenbremse hat also das Potenzial, eine sehr wertvolle Debatte über die Grundlagen der deutschen Fiskalpolitik anzustoßen. Dafür ist es aber wichtig, die Debatte nicht voreilig allein auf institutionelle Fragen zu verengen. Mindestens ebenso bedeutsam ist es, darüber nachzudenken, welche Interessen und Ideen von der Schuldenbremse repräsentiert werden.
[1]Alan Jacobs & Jacob Matthews, 2017: Policy Attitudes in Institutional Context: Rules, Uncertainty, and the Mass Politics of Public Investment. American Journal of Political Science 61 (1), 194-207. https://doi.org/10.1111/ajps.12209
Zum Weiterlesen:
Lukas Haffert: Die schwarze Null – Über die Schattenseiten ausgeglichener Haushalte. Berlin: Suhrkamp, 2016
Lukas Haffert, 2017: Permanent Budget Surpluses as a Fiscal Regime. Socio-Economic Review. Online First. https://doi.org/10.1093/ser/mwx050
Lukas Haffert & Philip Mehrtens, 2015: From Austerity to Expansion? Consolidation, Budget Surpluses, and the Decline of Fiscal Capacity. Politics&Society 43 (1), 119-148. https://doi.org/10.1177/0032329214556276
Bild: Wikimedia.
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