Mehr Mindestlohn, mehr Würde, weniger Marktversagen
Max Krahé, Anne Steuernagel
Dieser Geldbrief blickt auf den Mindestlohn: seine Geschichte, Wirkweise und mögliche Zukunft. Die Kernbotschaften: Bisher war der Mindestlohn eine große Erfolgsgeschichte. Dieser Erfolg hat weite Teile der VWL überrascht. Er geht darauf zurück, dass sich Arbeitsmärkte als vermachteter und reicher an Marktversagen herausgestellt haben, als viele vorher dachten. In Zukunft könnte es lohnenswert sein, schrittweise einen Mindestlohn von 16 Euro anzustreben.
Eine kurze Geschichte des Mindestlohns in Deutschland
Der Mindestlohn hat eine bewegte Geschichte. Seine Einführung erschien vielen als „ein großes, mit vielen sozialpolitischen Risiken verbundenes Experiment“ (Knabe et al. 2014). Gerade die Wirtschaftsweisen vertraten damals eine klar ablehnende Position.[1]
Heute wissen wir: Der Mindestlohn ist eine Erfolgsgeschichte. Seine Einführung zum 1.1.2015 hat die Löhne von circa vier Millionen Menschen angehoben (Mindestlohnkommission 2016, S. 37). Insbesondere in Ostdeutschland sorgte er für überdurchschnittliche Verdienstanstiege (Mindestlohnkommission 2016, S. 46-7). 2022 steigerte seine politische Anhebung auf 12 Euro die Löhne von 4,4 bis 5,8 Millionen Menschen (Bossler et al. 2024, S. 1, Mindestlohnkommission 2023, S. 70) um durchschnittlich 5 bis 6 Prozent.
Beides geschah, nach jetzigem Stand der Forschung, ohne signifikante negative Beschäftigungseffekte (Bossler et al. 2024, Dütsch et al. 2024). Jobs wurden zwar abgebaut in kleinen, unproduktiveren und schlechter zahlenden Unternehmen, dafür gab es einen Beschäftigungsanstieg in größeren, produktiveren und besser zahlenden Firmen (Dustmann et al. 2022). Der Mindestlohn steigerte also nicht nur die Markteinkommen am unteren Rand, sondern auch die Produktivität derjenigen, die zum Mindestlohn arbeiten. Gleichzeitig reduzierte er die Lohnungleichheit, insbesondere zwischen West- und Ostdeutschland (Bossler und Schank 2023).
Erfolg durch Marktversagen
In der Gesamtschau war der Mindestlohn eine der förderlichsten wirtschafts-, verteilungs- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der letzten Jahrzehnte. Wie war eine solche Erfolgsgeschichte möglich? Wieso irrten sich die vielen Kritikerinnen und Kritiker, die vorab vor seiner Einführung und Anhebung warnten?
Die Antwort ist: Marktversagen. Würden Arbeitsmärkte reibungslos und mit perfektem Wettbewerb funktionieren, so hätte der Mindestlohn negative Beschäftigungseffekte gehabt.[2] Bei perfektem Wettbewerb entsprechen die Löhne ziemlich genau der Produktivität einer erwerbstätigen Person.[3] Hebt der Mindestlohn in diesem Kontext die Löhne an, lägen sie über der Produktivität. Die relevanten Jobs würden zu Verlustgeschäften und daher schnell abgeschafft.
Haben Arbeitgeberinnen hingegen Marktmacht, können sie die Löhne unter die Produktivität drücken. In diesem Fall führt ein Mindestlohn primär dazu, dass Löhne erhöht werden. Das kann zu niedrigeren Profiten oder Preiserhöhungen führen, aber die Beschäftigung leidet nicht. Auch andere Rigiditäten auf dem Arbeitsmarkt können dazu beitragen, dass Löhne nicht immer der Produktivität entsprechen.
Die Erfolgsgeschichte des Mindestlohns zeigt, dass die Kritiker des Mindestlohns ein falsches Bild von Arbeitsmärkten hatten. Sie übersahen, wie häufig diese vermachtet sind, und wie häufig dort Marktversagen eine Bezahlung unter der Wertschöpfung der Arbeiterinnen — kurz: Ausbeutung — möglich macht.
Ein 16-Euro-Mindestlohn?
Aufgrund seiner bisherigen Erfolgsgeschichte und aufgrund des Energie- und Lebensmittelinflationsschubs der letzten zwei Jahre steht jetzt eine weitere politische Anhebung des Mindestlohns im Raum. Wäre das eine gute Idee?
Die große Frage ist, ob eine weitere Erhöhung vor allem weiteres Marktversagen korrigieren würde, ohne starke negative Beschäftigungseffekte hervorzurufen oder ob sie signifikant darüber hinaus gehen würde, sodass negative Beschäftigungseffekte zu erwarten wären.[4]
In diesem Kontext wollten wir wissen, ob auch jenseits der bereits diskutierten 14 und 15 Euro noch Spielräume bestehen. Konkret: Wie wäre ein 16-Euro-Mindestlohn einzuordnen? Dazu haben wir ein Papier geschrieben.
Ambitioniert, aber vertretbar
Was haben wir gelernt? Einerseits wäre die Eingriffstiefe eines 16-Euro-Mindestlohns sehr heterogen. Menschen in Minijobs, 18- bis 25-Jährige, Frauen sowie bestimmte Teile der Landwirtschaft und der Dienstleistungsbranchen wären stark berührt. Vollzeitbeschäftigte und das verarbeitende Gewerbe hingegen deutlich weniger.
Andererseits weisen nationale und internationale Studien darauf hin, dass die Beschäftigungseffekte eines 16-Euro-Mindestlohns offen sind. Gerade amerikanische Studien zeigen, dass selbst Erhöhungen auf mehr als 80 Prozent des Medianlohns keine signifikanten negativen Beschäftigungseffekte auslösen müssen (ein 16-Euro-Mindestlohn läge bei circa 70 Prozent des deutschen Medianlohns für Vollzeitbeschäftigte). Andere Studien finden hingegen schon bei niedrigeren Mindestlöhnen signifikante negative Effekte. Die Evidenz ist also gemischt.
Mit Blick auf mögliche Beschäftigungseffekte erscheint uns eine Anhebung des Mindestlohns auf 16 Euro daher ambitioniert. Solange sie aber in Schritten erfolgt, wie zum Beispiel die zurzeit diskutierte Anhebung auf 15 Euro, wäre sie durchaus vertretbar.[5]
Sorgfalt in der Umsetzung
Unsere Analyse zeigt auch: Ein Mindestlohn in dieser Höhe muss sorgfältig umgesetzt werden. Wie bereits bei der Erhöhung auf 12 Euro müssten Verstöße gegen das Mindestlohngesetz genau überwacht werden, gerade weil ein 16-Euro-Mindestlohn einzelne Gruppen stark betreffen würde.
Auch die geringfügige Beschäftigung müsste genau beobachtet werden. Da die Geringfügigkeitsgrenze zusammen mit dem Mindestlohn steigen soll, bestünde die Gefahr, dass nichtsozialversicherungspflichtige Beschäftigung attraktiver wird, mit möglicherweise negativen Konsequenzen für die Sozialversicherungssysteme sowie für das Arbeitsangebot von Frauen in Partnerschaften. Dementgegen stünde jedoch eine höhere Attraktivität von Arbeit insgesamt, aufgrund des höheren Mindestlohns und dessen indirekte Effekte auf Löhne weiter oben in der Verteilung.
Mehr Würde
Neben seinem wirtschaftlichen Erfolg ist der Mindestlohn ein Instrument, das Würde schafft. Durch die Steigerung der Markteinkommen senkt er die Notwendigkeit, Ungleichheit nachträglich über Transfers zu senken, und drückt Respekt für die harten Tätigkeiten aus, die gerade Mindestlohnverdiener oft ausüben. Daher sehen wir gute Argumente für eine weitere Erhöhung.
Gleichzeitig gilt: Der bisherige Erfolg des Mindestlohns sollte nicht dadurch gefährdet werden, dass er plötzlich weit über das Niveau angehoben wird, an dem er vor allem Marktmacht bekämpft und Marktversagen behebt. Ob dieses Niveau bei 16 Euro bereits überschritten ist, ist unklar. Ein Herantasten lohnt sich.
Unsere Leseempfehlungen:
- Wir analysierten den Mindestlohn vor allem mit Blick auf seine Beschäftigungs- und Fiskaleffekte. Dass es darüber hinaus noch um deutlich mehr geht, zeigt dieser wirtschaftsethische Twitter-Thread von Sebastian Thieme.
- Robuste Analysen des Mindestlohns erfordern granulare Daten, deren Erhebung viel Zeit kostet. Daher ist die erste Studie zu den Auswirkungen der 12-Euro-Erhöhung zum 1.10.2022 gerade erst erschienen: Bossler, Chitka und Schank (2024). Wie oben zusammengefasst, zeigt diese Studie, dass auch die politische Erhöhung des Mindestlohns ein großer Erfolg war. Für Eilige: Die wichtigsten Ergebnisse hat Mario Bossler in einem Twitter-Thread zusammengefasst.
Fußnoten
[1] „Der Sachverständigenrat steht den jüngsten regulatorischen Eingriffen in den Arbeitsmarkt kritisch gegenüber. […] Die Einschränkungen der Tarifautonomie, vor allem durch den Mindestlohn, […] gefährden die Beschäftigung“ (Jahresgutachten 2014/15, S. 271).
[2] Falls er über dem Marktlohn läge. Liegt der Mindestlohn darunter, so ist er zwar nicht schädlich, aber dafür nutzlos.
[3] Zahlt ein Job weniger als er an Wert schöpft, kann die Arbeitnehmerin mit Abwanderung drohen und ein höheres Gehalt raushandeln. Zahlt ein Job mehr, ist der Arbeitsplatz ein Verlustgeschäft für die Arbeitgeberseite und wird abgebaut.
[4] Im Zeitverlauf sind die Mechanismen komplizierter. Selbst wenn ein Mindestlohn die Produktivität gewisser Arbeitsplätze überschreitet und sie damit unrentabel macht, kann der Gesamteffekt positiv sein. Denn wo die Wirtschaft brummt, Fachkräfte knapp sind und Menschen sich weiterbilden können, ist es gut möglich, dass die gefeuerten Arbeitskräfte mittelfristig in höherproduktive Jobs gelangen. Daher wird der Mindestlohn im angelsächsischen Raum als „Produktivitätspeitsche“ bezeichnet, der Firmen und Arbeitende zwingt, ein Mindestmaß an Produktivität zu erreichen.
[5] Auch die möglichen Fiskaleffekte scheinen einem 16-Euro-Mindestlohn nicht im Weg zu stehen. Im Bezug auf staatliche Personalkosten hat die Tarifentwicklung der letzten Jahre dafür gesorgt, dass kaum noch Beamte oder Angestellte im öffentlichen Dienst weniger als 16 Euro pro Stunde verdienen. Die Effekte auf das Steuer- und Transfersystem bedürften einer detaillierteren Modellierung, doch in der Vergangenheit ging diese größtenteils positiv aus.
Medien- und Veranstaltungsbericht 13.06.24
- Medienerwähnungen und Auftritte
- Am 02.06.24 wurde im Handelsblatt unser Geldbrief erwähnt, welche Auswirkungen Kürzungen im Bundeshaushalt auf die Wahl von populistischen Parteien haben können.
- Am 02.06.24 wurde im Podcast bto – der Ökonomie-Podcast von Dr. Daniel Stelter ebenfalls der oben genannte Geldbrief aufgegriffen.
- Am 03.06.24 war Philippa im Interview bei brand eins wie ein klügeres Finanzsystem ermöglicht werden kann, und warb dort für mehr Geld in Bildung und Klimaschutz.
- Am 05.06.24 hat die SZ unser Papier zur Einordnung einer Mindestlohnerhöhung auf 16 Euro aufgegriffen und einen Artikel dazu veröffentlicht.
- Am 06.06.24 wurde im Eurointelligence-Newsletter ebenfalls das Mindestlohnpapier aufgegriffen.
- Am 13.06.24 wurde im Eurointelligence-Newsletter das Dezernat zur Schuldenbremse erwähnt.
- Veranstaltungen
- Am 25.06.24 von 12:30-13:30 Uhr findet unser Webinar zum Mindestlohn statt. Dazu haben wir vor kurzem ein Papier veröffentlicht. Unsere Schlussfolgerung: Auch ein 16-Euro-Mindestlohn wäre vertretbar, solange die Anhebung in Schritten erfolgt. Wir freuen uns, dieses Papier und den Mindestlohn im Allgemeinen mit Sebastian Thieme, wissenschaftlicher Referent an der Katholischen Sozialakademie Österreich und Dr. Max Krahé diskutieren zu können.
Der Geldbrief ist unser Newsletter zu aktuellen Fragen der Wirtschafts- Fiskal- und Geldpolitik. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns. Zusendung an max.krahe[at]dezernatzukunft.org
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