
Emissionshandel die Zweite: Füße stillhalten!
Levi Henze, Niklas Illenseer
Der EU-Emissionshandel für Gebäude und Verkehr soll noch vor seiner Einführung 2027 reformiert werden. Zumindest, wenn es nach dem Willen der Bundesregierung und einiger weiterer EU-Mitgliedstaaten geht. Wir diskutieren eine Metastudie unserer EMPN-Partner an der TU Chemnitz, die vor hohen Emissionspreisen im Gebäudesektor warnt. Wir zeigen, warum für uns dennoch die politischen und rechtlichen Risiken einer voreiligen Reform überwiegen. Kurs halten wird sich politisch auszahlen und könnte durch eine Vorauszahlung der zu erwartenden Einnahmen aus dem EU-ETS 2 risikoarm flankiert werden.
Mit halbem Fuß auf dem Bremspedal – so lässt sich die klimapolitische Devise der EU derzeit beschreiben. Auf Drängen Deutschlands wird der Staatenverbund wohl ohne verbindliches Klimaziel für 2035 zur Weltklimakonferenz reisen. Auch zentrale Maßnahmen des europäischen Klimaschutzes geraten ins Wanken: Die Flottengrenzwerte für Autohersteller wurden bereits aufgeweicht, doch Bundeskanzler Merz geht das nicht weit genug. Beim wichtigen Klimazoll für die Industrie (CBAM) hat die EU gerade erst neue Ausnahmen beschlossen, da schwebt Frankreich bereits die nächste Reform vor. Und nun droht eines der wohl wichtigsten Instrumente, der zweite europäische Emissionshandel (EU-ETS 2), das nächste Opfer dieser politischen Nervosität zu werden.
Reformschleife bereits vor dem Start?
Ab 2027 soll der EU-ETS 2 alle fossilen Brennstoffe erfassen, die nicht schon vom ersten Emissionshandel abgedeckt sind – also insbesondere Straßenverkehr, Gebäudewärme und kleine stationäre Energie- und Wärmeerzeugung. Im ersten Jahr stehen etwa eine Milliarde Zertifikate zur Verfügung, danach sinkt die Menge jährlich um 5,4 Prozent (siehe Abbildung 1).[1] Damit müssten die Emissionen in diesen Sektoren etwa zweieinhalbmal so schnell zurückgehen wie bisher.
Abbildung 1
Ergänzend soll die sogenannte Marktstabilitätsreserve (MSR) Preisspitzen abfedern und einen “ausgetrockneten” Markt durch zusätzliche Zertifikatsverkäufe verhindern. Sie umfasst anfänglich 600 Millionen Zertifikate und wird aktiviert, wenn Preise oder im Umlauf befindliche Zertifikatsmengen außerhalb definierter Ober- und Untergrenzen liegen (gut erklärt sind die Details hier). Ein “Preistrigger”, der bei 45 Euro pro Tonne CO2 greift, dürfte politisch eine entscheidende Rolle gespielt haben. Dieser wird oft fälschlicherweise als Preisdeckel interpretiert – ein solcher wäre europarechtlich aber kaum machbar (siehe unten).[2]
Doch noch vor seiner Einführung soll das System reformiert werden – zumindest nach dem Willen von 16 EU-Staaten, darunter Deutschland. Sie forderten im Sommer eine Reform noch vor dem Start mit drei wesentlichen Änderungen:
- die Stabilitätsreserve über 2031 hinaus verlängern,
- deren Mengentrigger lockern
- und den Preistrigger von 45 Euro stärker absichern.
Feintuning mit Sprengkraft
Mit allen drei Vorschlägen würden de facto mehr Zertifikate in Umlauf kommen als bisher geplant. Denn die Mitgliedstaaten argumentieren dafür, die 600 Millionen Reservezertifikate stärker als geplant zu nutzen. Bei voller Ausschöpfung der Reserve bis 2031 ginge es dabei um maximale Mehremissionen von 8 bis 10 Prozent. Für das Klima wäre das kein Todesstoß. Doch auch die Marktpreise würden nicht substanziell oder nachhaltig sinken.
Auf dem Papier geht es also um kleine Anpassungen, politisch jedoch wäre der Schritt riskant: Eine neue Gesetzesänderung könnte die Tür für weitgehendere Eingriffe öffnen und damit das fragile Gleichgewicht der aktuellen Kompromisse gefährden. Denn nur die Kommission könnte die Reform anstoßen – was EU-Parlament und Europäischer Rat im Anschluss daraus machen, wäre offen. Vor dem Hintergrund veränderter Mehrheitsverhältnisse birgt das ein erhebliches Risiko. Zudem droht, dass der EU-ETS 2 durch Markteingriffe als fiskalpolitisches Instrument gewertet wird. Da solche Eingriffe Einstimmigkeit im Europäischen Rat erfordern, wäre unsicher, ob eine Reform überhaupt Bestand hat (TFEU Art. 192).[3] Kurz gesagt: Wer jetzt nachregelt, riskiert ein Scheitern.
Wie verlässlich sind die Preisprognosen?
Die Sorge der Regierungen: Der CO2-Preis könnte zu schnell und zu stark steigen. Prognosen reichen bislang von 50 bis 400 Euro pro Tonne im Jahr 2030 – die Spannbreite ist enorm (Abbildung 2). Die EU-Kommission rechnet mit etwa 68 Euro im Durchschnitt. Selbst für ökonomische Forschung ist das eine frustrierend breite Streuung, die weder Zuversicht vermittelt noch Klarheit schafft.
Abbildung 2
Das hat auch damit zu tun, dass wir nicht genau genug wissen, wie stark Haushalte auf höhere Energiepreise reagieren. Für den Gebäudesektor haben wir diese Frage näher unter die Lupe genommen. Eine Metastudie unserer EMPN-Partner[4] an der TU Chemnitz (Gechert et al. (2025, preprint)) ergibt: Haushalte reagieren deutlich weniger als bisher angenommen. Grund dafür ist ein Publikationsbias – Studien mit „interessanten“ oder statistisch signifikanten Ergebnissen werden häufiger veröffentlicht als solche mit unauffälligen oder widersprüchlichen Resultaten.
So entsteht in der zusammengeführten Literatur der Eindruck, Preissignale wirkten stärker, als es die Daten hergeben. Nach Korrektur dieser Verzerrung durch sogenannte Meta-Regressionsmodelle sind die geschätzten Energiepreiselastizitäten deutlich kleiner.[5] Konkret zeigen die Berechnungen, dass eine Verdopplung des Gaspreises kurzfristig nur eine Nachfragereduktion von etwa 10 Prozent anstatt 25 Prozent auslösen würde, langfristig nur etwa 20 Prozent statt 45 Prozent. Der „naive“ Durchschnitt der Literatur würde also jeweils mehr als doppelt so hohe Elastizitäten erwarten.
Ein Rechenbeispiel hilft, die Tragweite dieser Ergebnisse zu verdeutlichen. Würde der EU-ETS 2 nur den Gebäudesektor umfassen, müssten dort die Emissionen bis 2032 um etwa 28 Prozent sinken. Dafür wäre ein CO2-Preis von 510 Euro nötig, wenn wir die Ergebnisse der Studie und aktuelle Haushaltspreise unterstellen. Das entspricht einem Gaspreis von 21 Cent pro Kilowattstunde. Noch etwas zugespitzt: Erst bei einem Preisniveau, das wir aus der Energiekrise kennen, würden drei von zehn Haushalten zur Wärmepumpe statt zur Gasheizung greifen.
Eine noch nicht veröffentlichte Anschlussstudie gibt außerdem Hinweise, dass politisch induzierte Preisänderungen etwas besser wirken als marktbedingte Energiepreisanstiege. Außerdem bestätigt sie ein zentrales Ergebnis der Literatur: Kurzfristig wirken preissenkende Subventionen gut, langfristig sind aber Preiserhöhungen, die eine umweltpolitische Lenkungsabsicht haben, effektiver.
Politische Zwickmühle – und ein Ausweg
Europa steckt im Dilemma: Reformiert man den EU-ETS 2 jetzt, schwächt man Glaubwürdigkeit und Planungssicherheit. Fährt man fort, könnten die Preise höher ausfallen als erwartet – mit sozialen und politischen Spannungen. Das ist auch eine Folge verschleppter Klimapolitik. Denn jede Tonne, die dank Dekarbonisierung nicht mehr ausgestoßen wird, treibt im Emissionshandel nicht mehr die Preise nach oben.
Die Argumente dafür, den Kurs zu halten:
- Großer Markt, viele Optionen: Mit dem Verkehrssektor und den Kleinanlagen aus dem Energie- und Industriesektor deckt der EU-ETS 2 viele Emissionsquellen ab, die leichter vermeidbar sind als jene im Gebäudesektor. Wegen Datenlücken sind diese nicht in Preisprognosen erfasst.
- Verlässliche Rahmenbedingungen: Wer das Instrument noch vor der Einführung wieder infrage stellt, gefährdet auch die Glaubwürdigkeit der gesamten Klimapolitik. Im Gegensatz zu Förderinstrumenten für E-Autos und Wärmepumpen, die sofort Wirkung zeigen, geht es beim EU-ETS 2 um langfristige, stabile Rahmenbedingungen.
- Erst Märkte schaffen, dann bewerten: Preisvolatilität beim Start ist Ausdruck von Kostenunsicherheit, die nur durch eine Markteinführung des Emissionshandels selbst verringert werden kann. Preisprognosen und auch unsere oben diskutierte Metastudie bleiben inhärent unsichere Schätzungen. Märkte verdichten reale Informationen, nicht Modellannahmen.
- Stabilitätsreserve wirkt: Bis zum regulär geplanten Review des EU-ETS 2 im Januar 2028 ist die Stabilitätsreserve ausreichend, um Preisspitzen zu dämpfen. Weder die bereits im Handel befindlichen Futures[6] noch Modellprognosen deuten auf böse Überraschungen hin. Ohne eine gut überlegte Reform der MSR-Regeln gilt, dass nur mehr Zertifikate – und damit mehr Emissionen – den Preis senken können.
Die Lösung liegt daher nicht in einem Eingriff, sondern in der Flankierung des Marktes durch gezielte Investitionen. Um Klimaziele zu erreichen und Preisspitzen zu vermeiden, sollte jetzt in die Dekarbonisierung der betroffenen Sektoren investiert werden – etwa in Gebäudesanierung, Wärmepumpen, Ladeinfrastruktur und Netze. Das betonen auch die zahlreichen Preisprognosen. Genau dazu bietet der EU-ETS 2 die nötigen Mittel: seine Einnahmen. Ein Frontloading dieser Erlöse könnte helfen, schon vor 2027 Investitionsprogramme zu starten und den künftigen Preisdruck zu dämpfen.
Fazit: Erst einführen, dann bewerten
Auch wir haben keine Glaskugel. Doch jetzt an Stellschrauben zu drehen, bevor das System überhaupt startet, wäre politisch übereilt und riskant. Einen neuen Markt zu schaffen, der Heizen und Autofahren teurer macht, ist politisch nicht leicht – besonders nach einer massiven Energiepreiskrise. Doch die Einführung ist durch die Erfahrungen mit dem EU-ETS 1 gut vorbereitet. Deshalb lautet unsere Empfehlung: einführen, beobachten, bewerten. Ruhe bewahren – und erst 2028 beim regulären Review entscheiden, ob und wie nachjustiert werden muss.
- Die wichtigste Empfehlung dieser Woche ist das oben diskutierte Papier (Gechert et al. 2025). Die Autor:innen finden viele weitere spannende Details und diskutieren das methodische Vorgehen detailliert.
- Mit dem Sanierungskostendeckel machen wir einen Reformvorschlag zur Gebäudeförderung, der Mehrbelastungen privater Haushalte durch den EU-ETS 2 zielgenau verhindert.
- Perdana und Vielle (2025) demonstrieren mit umfangreicher Datenarbeit die räumliche Dimension des EU-ETS 2 in ganz Europa und geben damit weitere wertvolle Hinweise zur Ausgestaltung von Entlastungsmaßnahmen.
Medienbericht 16.10.2025
Medienerwähnungen und Auftritte
- Rückblick
- Am 14.10.2025 zitierten der Tagesspiegel und The Pioneer Florian Schuster-Johnson zum Plan des BMF, Zinszahlungen für Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse auszunehmen.
- Am 14.10.2025 debattierte Florian Schuster-Johnson auf einer Veranstaltung der INSM mit Dr. Yannick Bury (MdB, CDU) und Prof. Dr. Jens Boysen-Hogrefe (IfW) zum Reformbedarf in der Haushaltspolitik und dem Sozialversicherungswesen.
- Am 14.10.2025 war Philippa Sigl-Glöckner zu Gast bei der SPD Halle (Saale), wo sie einen Vortrag zur Staatsverschuldung mit anschließender offener Gesprächsrunde hielt.
- Am 15.10.2025 hielt Philippa Sigl-Glöckner einen Vortrag zur Reform der Schuldenbremse mit anschließender Q&A-Session bei der Fiscal-Future–Veranstaltung “Investieren, modernisieren, reformieren – Wie weiter in der Finanzpolitik?”
- Am 16.10.2025 war Maximilian Paleschke zu Gast bei einer Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema „The Clean Industrial Deal, the Inflation Reduction Act and the future of green industrial policy“ in Brüssel. Dort sprach er auf einem geoökonomischen Panel mit Shuting Pomerleau (American Action Forum), Jonathan Barth (Geostrategic Europe Taskforce) und Jens van ‘t Klooster (University of Amsterdam) unter der Moderation von Anton Möller.
- Ausblick
- Am 03.11.2025 findet ab 19 Uhr das nächste Event der englischsprachigen Veranstaltungsreihe „Ideas of Energy“ statt, dieses Mal im Global Public Policy Institute, Reinhardtstraße 7, 10117 Berlin. Zum Thema „Energy and History“ wird Jean-Baptiste Fressoz sprechen, Historiker am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und Autor des Buches More and More and More. Hier geht es zur Anmeldung.
Fußnoten
[1] Ein wichtiges Detail am Rande: Tatsächlich versteigert werden im Jahr 2026 fast 1,4 Milliarden Zertifikate. Die zusätzliche Menge wird allerdings in den Jahren 2029-2031 von der versteigerten Menge wieder abgezogen. Durch dieses sogenannte Frontloading soll die Einführungphase des EU-ETS 2 leichter fallen. Mit den zusätzlichen Einnahmen wird der Social Climate Fund befüllt, der Mitgliedstaaten finanzielle Mittel zur sozialen Abfederung des Systems zur Verfügung stellen wird.
[2] Tatsächlich können bei Überschreitung des Preistriggers nur 40 Millionen zusätzliche Zertifikate pro Jahr in den Markt gegeben werden. Das entspricht weniger als 3,5 Prozent des jährlichen Angebots an Zertifikaten – zu wenig, um mittelfristig den Preis zu stabilisieren.
[3] Das Umschiffen des steuerlichen Charakters war ein Hauptgrund dafür, dass die Wahl historisch auf ein Emissionshandelssystem statt einer CO2-Steuer fiel (siehe Sato et al., 2022). Es scheint dazu allerdings auch unterschiedliche Rechtsauffassungen zu geben. So argumentiert etwa Scuderi (2022), dass eine Steuer mit umweltpolitischer Funktion keine Maßnahme „primarily of a fiscal nature“ (TFEU 192(2)(a)) darstellt, sondern unter den gewöhnlichen legislativen Prozess (TFEU 192(1)) fällt. Damit wären Lenkungssteuern – also auch ein EU-ETS 2 mit „hartem“ Preisdeckel – durch mehrheitliche Beschlüsse möglich.
[4] Mit dem European Macro Policy Network (EMPN) fördert Dezernat Zukunft Forschungsteams, Think Tanks und Bildungsorganisationen, die an der Weiterentwicklung der europäischen Finanzarchitektur arbeiten und vertiefen den innereuropäischen Austausch zu Finanz-, Geld- und Wirtschaftspolitik. EMPN wird von Brüssel aus koordiniert und hat Mitglieder in vielen EU-Staaten.
[5] Die Autor:innen nutzen mehrere statistische Verfahren, vor allem Meta-Regressionsmodelle wie PET-PEESE. Diese Modelle überprüfen, ob zwischen der Preiselastizität und ihrer statistischen Unsicherheit ein Zusammenhang besteht. Solche Bias-Korrekturen sind selbst mit methodischen Unsicherheiten behaftet. Verfahren wie PET-PEESE unterstellen, dass jede systematische Beziehung zwischen Effektgröße und Standardfehler auf Selektionsverzerrung beruht. In der Praxis kann diese Korrelation aber auch durch echte Heterogenität der Effekte, Messfehler oder unterschiedliche Datengüte entstehen. Zudem reagieren die Tests empfindlich auf Ausreißer und Annahmen über die lineare Form des Zusammenhangs. Neuere Ansätze wie WAAP oder MAIVE versuchen, diese Probleme zu mindern und finden in der Studie Ergebnisse ähnlicher Größenordnung. Insgesamt liefern die Korrekturen jedoch eher eine informierte Annäherung als eine exakte Eliminierung des Publication Bias.
[6] Futures (oder Terminkontrakte) sind verbindliche Verträge über den Erwerb eines zugrunde liegenden Produkts zu einem festgelegten Termin in der Zukunft. Für die Emissionszertifikate im EU-ETS 2 werden solche seit Sommer bereits in geringem Maße gehandelt. Sie signalisieren derzeit eine Preiserwartung für den EU-ETS 2 von etwa 80 bis 90 Euro.
Der Geldbrief ist unser Newsletter zu aktuellen Fragen der Wirtschafts-, Fiskal- und Geldpolitik. Über Feedback und Anregungen freuen wir uns. Zusendung an levi.henze[at]dezernatzukunft.org
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