Der deutsche Staat kennt seine Bücher nicht: die Farce unseres staatlichen Buchführungssystems
VINCENT STERNBERG
Nicht nur die Schuldenbremse führt die deutsche Finanzpolitik ad absurdum. Ein weiteres, jedoch wenig beachtetes Problem liegt im staatlichen Buchführungssystem der Bundesrepublik.
Fragt man Unternehmer wie wichtig eine funktionierende Buchführung ist, so fällt die Antwort in der Regel simpel aus: „essentiell.“ Zum einen schafft sie Transparenz nach innen, für interne Managemententscheidungen. Zum anderen schafft sie Transparenz nach außen: Durch das Einsehen der „Bücher“ können Kapitalgeber leichter entscheiden, zu welchen Konditionen sie Kapital zur Verfügung stellen. Ohne eine funktionierende Buchführung wäre also sowohl die operative Geschäftsführung als auch die Kapitalaufnahme für ein Unternehmen schwierig.
Doppik
Die doppelte Buchführung (bekannt als „Doppik”) hat ihren Ursprung im Italien des 13. Jahrhunderts. Fortlaufend weiterentwickelt, beruht doppelte Buchführung dabei auf der sogenannten Periodenrechnung. In der Periodenrechnung werden Anschaffungen von Vermögenswerten über ihre Lebensdauer „abgeschrieben“ und nicht direkt zu vollen „gezahlten“ Kosten gebucht. Investiert ein Schuhhersteller beispielsweise € 10 Mio. in Nähmaschinen, mit einer erwarteten Lebensdauer von 10 Jahren, so werden laut Periodenrechnung über die kommenden 10 Jahre jeweils € 1 Mio. geltend gemacht. Die Maschine wird also fortlaufend „abgeschrieben“. Da nun in jedem Jahr den Umsätzen durch den Schuhverkauf Abschreibungen („Kosten“) gegenüberstehen, lässt sich mit einem Blick auf den Jahresprofit die erwartete mittel- und langfristige Profitabilität der Firma beurteilen.
Kameralistik
Im einem sogenannten „kameralistischen“ Buchhaltungssystem ist das anders. Hier wird der reine Kapitalfluss, also tatsächliche Einnahmen und Ausgaben, betrachtet. Ein Blick auf den Jahresgewinn beinhaltet also im Jahr der Anschaffung die vollen „gezahlten“ Kosten für die Nähmaschinen, in den Folgejahren dafür keine Abschreibungen. Eine Einschätzung der mittel- und langfristigen Profitabilität des Geschäfts mit einem Blick auf ein einzelnes Jahr wird erschwert. Diese Kapitalflussrechnung ist für das Unternehmen durchaus wichtig, da sie aufzeigt wie viel Barvermögen am Ende jedes Jahres erwirtschaftet wurde, doch auf ihrer Basis allein lassen sich Investitions- und Managemententscheidungen nur schwierig treffen.
Aus diesem Grund sind Unternehmen in Deutschland laut Handelsgesetzbuch verpflichtet in ihrem Jahresabschluss drei externe Rechnungslegungen aufzuweisen: (1) eine auf Periodenrechnung basierende Gewinn und Verlustrechnung, (2) eine kameralistische Kapitalflussrechnung und (3) eine Bilanz, die die Vermögenswerte und Verbindlichkeiten der Firma aufzeigt.
Eine auf diesen Prinzipien basierende Buchführung ergibt auch für Volkswirtschaften Sinn. Während im Fall von Unternehmen interne Transparenz für das Management und externe Transparenz für Investoren wichtig ist, ist im Fall von Staaten interne Transparenz für die Regierung und externe Transparenz für die Bürger von Relevanz.
Das international meistverbreitete staatliche Buchführungssystem, das Regeln zur Wertfestlegung staatlicher Vermögenswerte und Verbindlichkeiten kodifiziert, ist das IPSAS – das „International Public Sector Accounting System.“ IPSAS und sein europäischer Bruder EPSAS sehen dabei, wie seit Jahrhunderten üblich, auf Periodenrechnung basierende Gewinn- und Verlustrechnungen sowie Bilanzen vor.
Doppik: Bilanzielle Buchführung, die Vermögen und dessen Finanzierung zu einem bestimmten Zeitpunkt gegenüberstellt. Sie besteht aus einer Bilanz, die Vermögenswerte und Verbindlichkeiten erfasst, und einer Gewinn- und Verlustrechnung, in der die jährliche Profitabilität des Unternehmens durch Periodenrechnung (also das allmähliche Abschreiben von Vermögenswerten) ermittelt wird.
Kameralistik: Kapitalflussrechnung, die die tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben pro Jahr notiert.
Die öffentliche Buchführung in Deutschland ist fast ausschließlich kameralistisch
Doch während einige Länder bereits vor langem ihre Buchhaltungssysteme zumindest um Bilanzen ergänzt haben, basiert die Finanzstatistik des Bundes nach wie vor allein auf kameralistischer Rechnungslegung.[1] Das führt zu praktischen Problemen, da z.B. der Maastrichtschuldenstand so nur durch Schätzungen ermittelt werden kann.[2] Zudem verlangt Artikel 73 der Bundeshaushaltsordnung, dass sowohl über Vermögen und Schulden Buch geführt wird, als auch, dass es eine Verbindung zwischen der deutschen Bilanz und der Kapitalflussrechnung gibt. Die Vermögensrechnung des Bundes bezieht jedoch kein Sachvermögen (wie bspw. staatliche Immobilien) mit ein.
Einen ersten Hinweis auf die finanziellen Verhältnisse des deutschen Staats gibt die volkswirtschaftliche Statistik: Sie schätzt das öffentliche Reinvermögen (Vermögen minus Schulden) auf 895 Mrd. Euro, oder circa 27% des deutschen BIPs.
Die Probleme der Kameralistik beschränken sich jedoch bei weitem nicht auf Komplikationen bei der Schuldenermittlung. Tatsächlich hat kameralistische Buchführung drastische Implikationen für die Finanzpolitik, da die wichtigste finanzpolitische Vorgabe der Bundesregierung — die Schuldenbremse — auf Kameralistik beruht.
Möchte der Bund beispielsweise im Jahr 2020 10 Mrd. Euro in den Bau von Autobahnen investieren, so macht er diese Kosten, entsprechend der Kameralistik, direkt geltend. Falls der Haushalt bereits am Limit der Schuldenbremse ist, müssen diese Kosten im selben Jahr durch Einnahmen von 10 Mrd. Euro ausgeglichen werden, was bei größeren Summen schnell politische Schwierigkeiten verursacht.
Im Vergleich zu einem Periodenrechnungssystem in dem die Kosten für den Autobahnbau bspw. über 10 Jahre abgeschrieben würden, wird so in „teure“, langfristige Investitionsprojekte systematisch unterinvestiert. In diesem Licht ist es weniger überraschend, dass sich Berichte über marode öffentliche Infrastruktur oder nicht-abhebende Regierungsflieger häufen.
Doch in Sachen Buchhaltung bleibt die Bundesrepublik hartnäckig. Auf ein Drängen der EU-Kommission, EPSAS zur leichteren Beurteilung der finanziellen Situation aller Volkswirtschaften innerhalb des Euroraums bis 2025 einzuführen, reagiert der Bundesrechnungshof echauffiert. Auch wiederholte positive Berichte aus Hessen, welches eine transparente doppelte Buchführung bereits 2009 einführte und seitdem über die vielen positiven Effekte der Reform berichtet, stoßen im Rest der Republik auf wenig Gehör.
Fazit
Ohne doppelte Buchführung bleibt eine langfristig gedachte Finanzpolitik auf Landes- und Bundesebene schwierig. Im aktuellen System existiert schlicht keine einheitliche Vermögensrechnung des Bundes und der Länder, die alle Vermögenswerte und Verbindlichkeiten des Staates aufzeigt. Eine nachhaltige Finanzpolitik, die nicht von Jahresabschluss zu Jahresabschluss denkt, sondern auch zukünftige Generationen im Blick hat, kann so nur zufällig gelingen. Die Einführung einer vollständigen Bilanz und einer auf Periodenrechnung basierenden jährlichen Gewinn- und Verlustrechnung, wäre ein essentieller Schritt um diesen finanzpolitischen Blindflug zu beenden.
[1] Länder und Kommunen können mittlerweile zwischen Doppik und Kameralistik wählen. Mit der Verabschiedung der „Standards staatlicher Doppik“ gibt es ein einheitliches Regelwerk. Bis heute hat auf Landesebene jedoch nur Hessen eine flächendeckende auf kaufmännischen Standards beruhende doppische Buchführung eingeführt.
[2] So beklagte selbst die Deutsche Bundesbank 2018, dass es ihr de facto unmöglich sei, den genauen Schuldenstand der Bundesrepublik und damit das Einhalten der Maastricht-Kriterien festzustellen.
Picture credit: Pixabay
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