Das Pandemie-Notfallankaufprogramm der EZB (PEPP) könnte ein historischer Wendepunkt sein
JENS VAN’T KLOOSTER
Die Ankündigung der EZB Mittwoch letzte Woche (18.3.), auf die Coronakrise mit einem Pandemie-Notfallankaufprogramms (PEPP) zu reagieren, stellt einen radikalen Bruch in der Geschichte der Institution dar. Im Rahmen dieses Programms plant die EZB, 750 Milliarden Euro an neuem Geld auszugeben. Das ist inzwischen fast “business as usual”. Was hingegen radikal neu ist, ist die offen erklärte Bereitschaft der EZB, fiskalische Maßnahmen zu finanzieren, die die Mitgliedsstaaten als Reaktion auf die Pandemie ergreifen.
Bei kühler Betrachtung ist die Notwendigkeit vom PEPP nicht sofort offensichtlich, da die Wirtschaft gerade kein klassisches geldpolitisches Konjunkturpaket braucht. Klar ist: Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden starke wirtschaftliche Auswirkungen haben, die weitaus schlimmer ausfallen können als die der globalen Finanzkrise. Aber diese Schäden entsteht dadurch, dass die Menschen zu Hause bleiben müssen, anstatt zu produzieren und zu konsumieren. Wirtschaftliche Unterstützung ist essentiell, da ohne staatliches Eingreifen viele Menschen keine Miete zahlen könnten und die Unternehmen binnen einem Monat zusammenbrechen würden. Doch EZB-Präsidentin Christine Lagarde räumt ausdrücklich ein, dass sie nicht in der Lage ist, diesen Auswirkungen entgegenzuwirken, da der wirtschaftliche Schaden selbst ein integraler Bestandteil des Virenbekämpfungsprogramms ist: Die “Eindämmung des Virus … bedeutet im Grunde, dass ein Großteil der Wirtschaft vorübergehend lahmgelegt ist.“
Um die Auswirkungen dieses „Lahmlegens“ abzuschwächen, sind vor allem mikroökonomisch ausdifferenzierte Maßnahmen erforderlich. Denn die Pandemie hat extrem unterschiedliche Auswirkungen auf unterschiedliche Sektoren: einige Sektoren, z.B. Gastronomie, Tourismus, oder Luftfahrt, werden extrem leiden. Auf andere Sektoren, in denen Angestellte gut von zuhause aus arbeiten können, oder die als Teile der Grundversorgung weiterlaufen müssen, hat sie weitaus weniger Auswirkungen. Ein gesamtwirtschaftlicher geldpolitischer Stimulus ist daher wenig geeignet, die wirtschaftlichen Konsequenzen der Coronabekämpfung abzufedern. Gezielte Kreditlockerung könnte denen helfen, die kurzfristig betroffen sind. Dafür bräuchte es jedoch kein PEPP: die EZB könnte TLTRO’s oder regulatorische Änderungen einsetzen, um gezielt Kredite in besonders anfällige Sektoren zu lenken. Und mehr Kreditvergabe würde zudem nur den ohnehin schon historisch hohen Schuldenstand im Privatsektor erhöhen, der letztlich in Teilen bei Regierungen landen könnte.[1]
Bei dieser Betrachtung wird klar: PEPP sollte weniger als klassische Geldpolitik verstanden werden, die auf eine Erleichterung der Kreditvergabe an Firmen und Privathaushalte abzielt. Die Hauptaufgabe des Programms besteht vielmehr darin, EU-Mitgliedstaaten darin zu unterstützen, mit ihrer eigenen Fiskalpolitik gezielt die Krise zu bekämpfen—eine gewisse Form von monetär-fiskaler Kooperation. Dabei hat die EZB sich sogar die Möglichkeit offengelassen, die am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten am stärksten zu unterstützen.
Die Schlüsselstelle in der Ankündigung des PEPP durch die EZB ist nicht im Maßnahmenkatalog enthalten, sondern kommt am Ende:
„Sollten einige selbst auferlegte Beschränkungen die EZB möglicherweise daran hindern, so zu handeln, wie es zur Erfüllung ihres Mandats erforderlich ist, so wird der EZB-Rat außerdem die Überarbeitung dieser Beschränkungen in Erwägung ziehen, soweit es notwendig ist, damit sein Handeln in einem angemessenen Verhältnis zu den Risiken steht, mit denen wir konfrontiert sind.“[2]
Was sagt die EZB hier? Als erstes ist zu beachten, dass ein altbekannter Schlüsselbegriff nirgendwo in der Pressemitteilung vom 18.3. auftaucht: „price stability“, sprich Preisstabilität. Für Außenstehende mag das wenig überraschend sein, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals ein EZB-Dokument gesehen zu haben, das diesen Begriff nicht enthält. Stattdessen verwendet die Mitteilung den allgemeineren Begriff “Mandat”, der sich hier auf die Ziele der EZB bezieht. Dies ist wichtig, denn obwohl das Hauptziel der EZB die Preisstabilität ist, hat sie laut ihrem Mandat auch die Aufgabe, “die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union” zu unterstützen.[3] Im Gegensatz zu früheren Maßnahmen zur Krisenbekämpfung während der letzten Jahre hat die EZB also nicht versucht, diese Maßnahme unter das Teilmandat der Preisstabilität zu zwängen.
Zweitens ist zu beachten, dass die EZB hier implizit zugibt, dass die meisten Grenzen, die bisher für den Gebrauch ihrer Instrumente galten, selbst auferlegt wurden,[4] und daher, so behauptet die EZB, von ihr selbst revidiert werden können. Drei Arten von Beschränkungen, die sich die EZB bisher selbst auferlegt hat, sind dabei besonders relevant. Erstens waren Käufe von Staatsanleihen vorher an ein “Investment Grade” Rating mindestens einer Ratingagentur gekoppelt. Jetzt ist jedoch Griechenland trotz des Fehlens eines solchen Ratings ausdrücklich Teil des Programms.
Zweitens hat die EZB in der Vergangenheit verschiedene Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass die von den einzelnen Mitgliedstaaten gezahlten Zinssätze weiterhin von den Märkten bestimmt wurden. Bisher gab es eine für jede Emittent und jede Emission geltende Obergrenze von 33%: mehr als diesen Anteil hat die EZB sich nicht erlaubt zu kaufen. Diese Obergrenze wurde jetzt aufgegeben, was zur Folge hat, dass die EZB jetzt auch dann weiter Staatsanleihen kaufen könnte, wenn sie bereits 33% einer einzelnen Anleihe oder der ausstehenden Anleihen eines einzelnen Mitgliedsstaates hält.
Drittens, künftig könnte die EZB noch weiter gehen, indem sie die strikte Aufteilung ihres Ankaufvolumen nach ihrem Kapitalschlüssel[5] aufgeben würde. Der Verzicht auf diese Beschränkung würde es der EZB ermöglichen, die Käufe gerade auf die Mitgliedstaaten zu konzentrieren, die es am dringendsten nötig haben. Die Absicht, dies auch zu tun, wird im Blogpost vom 19.3. stark angedeutet: PEPP, so heißt es dort, ist „so gestaltet, dass es auf die stufenweise Ausbreitung des Virus und auf die Unsicherheit darüber, wann und wo die negativen Folgen am schlimmsten sein werden, reagieren kann“. Eine Abweichung vom Kapitalschlüssel, so deutet Lagarde dort an, könnte nicht nur als Reaktion auf das Angebot an Anleihen auf dem Markt geschehen, sondern auch als Reaktion auf die Schwere und Abfolge der Krise in den einzelnen Mitgliedstaaten.
Die Anleihenankaufprogramme der EZB sind eine ausgesprochen starke Unterstützung für die Mitgliedstaten. 92% der Zinsen, die Regierungen auf der EZB gehörende Anleihen zahlen, gehen direkt an ihre eigenen Zentralbanken und nicht an die EZB, und werden am Ende des Jahres als Zentralbankgewinn an sie zurückgezahlt.[6] Theoretisch könnte die EZB die gekauften Anleihen zurück an Privatinvestoren verkaufen, so dass dieser Rückfluss von Zinszahlungen zum Erliegen käme. In der Praxis ist es jedoch höchst unwahrscheinlich, dass sie dies mit den über drei Billionen Euro an Anleihen, die sie derzeit besitzt, tun wird. Die EZB wird die Anleihen höchstwahrscheinlich nicht nur behalten, sondern sie bei Fälligkeit auch ersetzen. Wenn das zutrifft, dann müssen Staaten die an diesen Anleihen hängenden Schulden nicht zurückzahlen, und sie würden durch PEPP Ankäufe gratis Geld erhalten. Je nach Umsetzung ermöglicht die EZB es also durch PEPP den Mitgliedstaten, ihre eigenen Fiskalpolitik zu gestalten ohne dabei Angst haben zu müssen, den Zugang zu Anleihenmärkten zu verlieren.
Die EZB hält zwar kurz davor, die angemessene Finanzierung von Staatsausgaben als eine notwendige Voraussetzung für die Erreichung der in ihrem Mandat festgelegten Ziele darzustellen. Aber wenn ein Programm kein klares Preisstabilitätsziel mehr hat, sollten wir wahrscheinlich zögern, es als „Quantitative Easing“ zu bezeichnen. Stattdessen wäre der volkswirtschaftliche Begriff der monetären Finanzierung akkurater.
Es ist möglich, dass die dramatische Ankündigung der EZB die Mitgliedsstaaten dazu motiviert, eine Lösung zu finden, um monetäre Finanzierung zu vermeiden. Ist das vielleicht Lagardes tatsächliches Ziel, welches sie mit dem Andeuten beziehungsweise Möglichmachen von radikalem Zentralbankaktivismus erreichen möchte? Es bleibt zu früh, um dies zu beurteilen. Jens Weidmann und Klaas Knot, die für respektive Deutschland und die Niederlande im EZB Rat sitzen, sollen bereits intern ihre Bedenken geäußert haben.
Wie dem auch sei, in jedem Fall lässt die EZB mit PEPP ihre Eurokrisen-Strategie hinter sich, in der sie mit der Ankündigung ihres Anleihenkaufprogramms wartete, bis die Mitgliedstaaten den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) geschaffen hatten. Diesmal hat die EZB zuerst gehandelt und damit Druck auf die nationalen Regierungen ausgeübt, einen angemesseneren Lastenverteilungsmechanismus vorzuschlagen (Coronabonds, Hubschraubergeld, alles ist auf dem Tisch). Wie Daniela Gabor betont ist es jedoch unwahrscheinlich, dass alle Krisenmaßnahmen durch Schulden finanziert werden können, so dass die Mitgliedsstaaten letztendlich auch über Steuern nachdenken müssen.
Vorerst ist klar, dass allein schon das Infragestellen der selbst auferlegten Beschränkungen—darunter das 33% Limit und die Aufteilung des Kaufvolumens nach dem Kapitalschlüssel—die Eurozone radikal verändern könnte. Zum Guten oder zum Schlechten deutet die EZB so an, endlich ihren Status als “der kühnste Ausdruck einer aufstrebenden föderalen Macht auf EU-Ebene“ anzuerkennen, wie Nicolas Jabko es in seinem zu Unrecht vernachlässigtem Artikel zu diesem Thema sagt.
Dies ist ein Gastbeitrag der zuvor auf Englisch bei Digressions & Impressions erschienen ist.
Fußnoten
[1] Es ist ein Anzeichen dafür, wie extrem die Krise ist, dass die Senkung der Eigenkapitalanforderungen der EZB, durch die zusätzliche Bankkredite an Firmen und Haushalte in Höhe von 1,8 Billionen Euro ermöglicht wurden, fast keine Aufmerksamkeit erhielt. Bankenrettungen, falls diese nötig werden sollten, werden jedoch weiterhin von den einzelnen Mitgliedsstaaten bezahlt, da es immer noch kein EU-Einlagensicherungssystem gibt.
[2] Diese Formulierung ist sowohl im (englisch-sprachigen) Pressestatement vom 18.3. als auch im (auf 14 Sprachen verfügbaren) Blog-Eintrag vom 19.3. enthalten, der PEPP detaillierter erklärt.
[3] Die gesamte Formulierung lautet: ” Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken (im Folgenden “ESZB”) ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um zur Verwirklichung der in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union festgelegten Ziele der Union beizutragen.” Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union enthält eine lange Liste guter, aber allgemein gehalterner und schwer zu interpretierender Ziele.
[4] Trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshofs, dass beim Kauf von Staatsanleihen „ihr Tätigwerden mit hinreichenden Garantien versehen“ werden muss, „um sicherzustellen, dass es mit dem in Art. 123 Abs. 1 AEUV festgelegten Verbot der monetären Finanzierung in Einklang steht.“
[5] Der Kapitalschlüssel der EZB wird durch die Bevölkerung und das BIP der einzelnen Mitgliedstaaten bestimmt.
[6] Die Bundesbank hat bei Beginn der Anleihenkäufe auf diese Aufteilung der Zinszahlungen gedrängt, aber da die Renditen auf andere Anleihen deutlich höher als auf Bundesanleihen sind, sind der Bundesrepublik dadurch bereits Mindereinnahmen entstanden. Sollte es zu vom Kapitalschlüssel abweichenden Käufen kommen, würde sich das frühe Drängen auf diese national-lastige Aufteilung eindeutig als taktischer Fehler erweisen.
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