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15. Mai 2024
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Max Krahé

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Geldbrief

Das öffentliche Beschaffungswesen als Dekarbonisierungs­instru­­ment

Lesedauer: 7 min
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Max Krahé, Janek Steitz

Mit dem „Fit for 55“-Paket, dem Critical Raw Materials Act und dem Net Zero Industry Act hat sich Europa ambitionierte Klima- und Resilienzziele gegeben. Eine neue Studie des Forschungsinstituts Carbone 4 überprüft, inwiefern das öffentliche Beschaffungswesen dazu beitragen könnte, diese Ziele zu erreichen. Das Ergebnis: ein ambitioniertes Gesetz für europäische und nachhaltige Beschaffung könnte ca. ein Prozent der EU-Emissionen einsparen und dazu beitragen, grüne Leitmärkte für europäische Firmen zu schaffen. Die dabei entstehenden Mehrkosten wären beherrschbar.

Das öffentliche Beschaffungswesen ist ein langer Hebel

Das öffentliche Beschaffungswesen ist ein signifikanter Wirtschafts- und Emissionsfaktor: In der EU macht es 10 Prozent des CO2-Fußabdrucks und 15 Prozent des BIPs aus (Carbone 4, 2024). Allein in Deutschland beschafft die öffentliche Hand jährlich Güter und Dienstleistungen für mehr als 500 Milliarden Euro (BMUV 2020).

Doch im Gegensatz zu den USA und China lässt Europa dieses Finanzvolumen als politischen Hebel bisher weitgehend ungenutzt: 80 Prozent der öffentlichen Aufträge in der EU werden allein auf der Grundlage des Preises vergeben. Weder Umwelt- noch Lokalisierungskriterien spielen eine entscheidende Rolle.

Welche Möglichkeiten hier bestehen, zeigt eine neue Studie von Carbone 4, bei der das Dezernat Zukunft beratend unterstützte. Sie untersucht zwei Fragen: Wie könnte ein EU-Gesetz für europäische und nachhaltige Beschaffung aussehen? Und was wären die Auswirkungen gewesen, hätte man ein solches Gesetz 2015 beschlossen und ab 2019 in Kraft gesetzt?

Ein EU-Gesetz für europäische und nachhaltige Beschaffung

Die Studie identifiziert zunächst, welche Sektoren und Produkte besonders geeignet dafür wären, das Beschaffungswesen als strategisches Instrument einzusetzen. Dazu gehören Stahl, Aluminium, Zement, das Baugewerbe, Kraftfahrzeuge sowie Lebensmittel und Catering-Dienstleistungen. In diesen Bereichen fallen hohe Emissionen an — zusammen sind sie für circa 30 Prozent der Emissionen des öffentlichen Beschaffungswesens verantwortlich — sodass erhebliche CO2-Einsparpotenziale bestehen. Gleichzeitig ist der öffentliche Sektor ein gewichtiger Kunde, dessen Vorgaben hier Signalwirkung entfalten können.

Für diese Produkte wurden zwei Arten von Kriterien entwickelt: Lokalisierungsanforderungen und Klimaanforderungen (Tabelle 1). Diese Anforderungen sind ambitioniert, aber technisch umsetzbar.

Tabelle 1[1] 

Zusätzlich betrachtet die Studie Lokalisierungskriterien für die Herstellung von (subventionierten) Solaranlagen, Windturbinen und Elektroautos, die mit denen des US-Amerikanischen Inflation Reduction Acts (IRAs) vergleichbar sind, und wendet die oben genannten Klimakriterien auf den Stahl und das Aluminium an, die hierfür verbraucht werden.

Zwei Input-Output-Modelle erlauben eine granulare Modellierung

Um den Effekt dieser Kriterien auf Emissionen und Wertschöpfung zu verstehen, benutzt die Studie zwei Input-Output-Modelle auf der Basis zweier Datensätze: Die FIGARO-Datenbank, die von Eurostat und dem Joint Research Centre der EU-Kommission entwickelt wurde, sowie die EXIOBASE-Datenbank, die von einem Konsortium europäischer Universitäten und Forschungszentren entwickelt wurde. FIGARO bildet 64 Produkte, 27 EU-Länder, und deren 17 größte außereuropäischen Handelspartner ab; EXIOBASE bietet eine granularere Aufschlüsselung insbesondere bei Lebensmitteln und Baumaterialien an, mit insgesamt 200 Produkten, 163 Industrien und detaillierten Emissionsdaten.

Diese Modelle erlauben es, Veränderungen in Nachfrage, Angebot, Emissionen und Arbeitsplätzen in einem statischen Rahmen zu modellieren, inklusive den Effekten auf vorgelagerte Wertschöpfungsketten. Außen vor bleiben dabei die Mehrkosten, die die schärferen Kriterien in der Beschaffung verursachen, sowie Innovations- und andere dynamische Effekte, die durch die Leitmarktfunktion von öffentlicher Beschaffung entstehen könnten.

Das Szenario, das mittels dieser Modelle untersucht wurde, war die Einführung eines wie oben beschriebenen Beschaffungsgesetzes 2015, mit vollem Effekt ab 2019. Die Modellierung wurde für zwei Jahre vorgenommen: 2019, dem ersten Jahr mit vollem Effekt, und 2021, das Jahr mit den jüngsten Input-Output-Daten.

Signifikante Emissionseinsparungen und Leitmarkteffekte sind möglich

Die Ergebnisse zeigen, dass durch den strategischen Einsatz des öffentlichen Beschaffungswesens der Emissions-Fußabdruck der EU, also die verbrauchsbasierten Emissionen, um 31 bis 36 MtCO2e pro Jahr hätte gesenkt werden können (Abbildung 1). Dies entspricht 64 Prozent der Absenkung, die der EU von 2015 bis 2019 tatsächlich gelang, neun Prozent der Gesamtemissionen durch öffentliche Beschaffung oder grob ein Prozent der EU-Gesamtemissionen. Durch die Verschiebung von Wertschöpfung nach Europa, die durch die Lokalisierungskriterien ausgelöst wird, wäre die Reduktion der territorialen, also der produktionsbasierten Emissionen jedoch geringer: 8-10 MtCO2e pro Jahr.

Würde man ausschließlich Lokalisierungskriterien einführen, ohne sie durch Nachhaltigkeitskriterien zu flankieren, so würden die verbrauchsbasierten Emissionen immer noch zurückgehen, da die Produktion in Europa emissionsarmer ist als in vielen anderen Ländern. Die Reduktion wäre aber deutlich geringer, mit nur 7 MtCO2e pro Jahr anstatt von 34 MtCO2e. Die produktionsbasierten Emissionen würden um 4 MtCO2e pro Jahr ansteigen.

Abbildung 1

Neben den Emissionseffekten würde eine solche Reform des Beschaffungswesens die geographische und sektorale Verteilung der Wertschöpfung beeinflussen. Dabei dominieren die innereuropäischen Verschiebungseffekte (von schmutzigen in grüne Aktivitäten), während die geographischen Verschiebungen (von außer- zu innereuropäischer Aktivität) vergleichsweise gering sind (Abbildung 2). Innerhalb Europas würden circa 80 Milliarden Euro zusätzlich in grüne Aktivitäten fließen. Dies würde gut 350.000 innereuropäische Arbeitsplätze aus schmutzigen Sektoren in grüne Aktivitäten verschieben. Aus dem außereuropäischen Ausland würden sechs Milliarden Euro und knapp 30.000 Arbeitsplätze nach Europa wandern.

Die Modellierungsergebnisse deuten daher an, dass eine dezidiert grüne und europäische Ausrichtung des öffentlichen Beschaffungswesens vor allem eine Leitmarktfunktion hätte. Auch wenn es eine gewisse Verschiebung von Wertschöpfung in die EU hinein gäbe — was die wirtschaftliche Resilienz stärkt, jedoch politische Komplikationen auslösen könnte — wäre diese weniger gewichtig.

Abbildung 2

Die Mehrkosten wären beherrschbar

Eine zentrale Frage, die sich bei einem EU-Gesetz für europäische und nachhaltige Beschaffung stellen würde, wäre, welche Mehrkosten es für die öffentliche Hand verursachen würde. Wäre es prohibitiv teuer, mit diesem Hebel Emissionen zu senken und grüne Leitmärkte zu schaffen?

Eine ausführliche Modellierung der Mehrkosten war nicht möglich im Rahmen der Studie. Eine Überschlagsrechnung zeigt jedoch, dass die Kosten beherrschbar wären. So gibt die öffentliche Hand in Deutschland laut der FIGARO-Daten circa 50 Milliarden Euro pro Jahr für Baumaßnahmen aus. Geht man (auf Grundlage dieser Studie des Weltwirtschaftsforums von 2022) von einer Kostensteigerung von zwei Prozent aus, die die Beschaffungskriterien auslösen würden, wären dies jährliche Mehrkosten von einer Milliarde Euro. Bei Fahrzeugen hängt die Mehrkostenrechnung stark vom Nutzungsprofil ab, welches die Kostendifferenz zwischen Verbrenner- und E-Auto beeinflusst, sowie vom aktuellen geographischen Beschaffungsprofil, welches beeinflusst, wie stark ein Lokalisierungskriterium hier beißen würde. Geht man konservativ von einer 20-prozentigen Kostensteigerung aus, würde dies zu einem Mehrbedarf von circa 400 Millionen Euro pro Jahr führen.[2] Beides wären signifikante Summen — gerade im aktuellen haushälterischen Kontext — die jedoch eine strategische Einsetzung des öffentlichen Beschaffungswesens nicht von vornherein ausschließen.

Neue Zeiten, neue Ansätze

Sowohl China als auch die USA verwenden ihr öffentliches Beschaffungswesen zur Erreichung politischer Ziele. Auch in Deutschland gilt, seit Inkrafttreten des Bundes-Klimaschutzgesetzes 2019, dass Klimakriterien zumindest mit in Betracht gezogen werden müssen. Die Studie von Carbone 4 zeigt, dass dieses Instrument weitere Potenziale birgt. Inwiefern und in welcher Form diese auf der europäischen Ebene gehoben werden könnten, wäre ein angemessenes Thema für den Europawahlkampf.

Unsere Leseempfehlungen:

  • Das öffentliche Beschaffungswesen kann ein wichtiger Antreiber von Innovation sein. Wer diesen Aspekt besser verstehen möchte, dem sei „Public procurement and innovation—Resurrecting the demand side“ von Jakob Edler und Luke Georghiu (2007) ans Herzen gelegt.
  • Das öffentliche Beschaffungswesen hat auch Schattenseiten. Ein Buch, das diese sichtbar macht, insbesondere im militärischen Beschaffungswesen, ist Boyd: The Fighter Pilot Who Changed the Art of War, von Robert Coram. Als Berater des Pentagons arbeitete Boyd darauf hin, ein möglichst günstiges Flugzeug entwerfen zu lassen. Eine der vielen Geschichten, die Corams Biographie erzählt, ist wie und warum dieser Versuch scheiterte.

Fußnoten

[1] Als „Saubere Kraftfahrzeuge“ gelten bei leichten Nutzfahrzeugen (PKWs und Transporter) bis zum 31. Dezember 2025 Fahrzeuge mit nicht mehr als 50 gCO2e/km an Emissionen, ab dem 1. Januar 2026 dann 0 gCO2e/km. Als saubere schwere Nutzfahrzeuge (LKWs und Busse): gelten Fahrzeuge, die einen der folgenden alternativen Kraftstoffe benutzen: Elektrizität, Wasserstoff, Biokraftstoffe, komprimiertes Erdgas (CNG), LNG oder Flüssigerdgas (LPG).

[2] Laut FIGARO gibt die öffentliche Hand circa zwei Milliarden Euro für die Beschaffung von Fahrzeugen aus pro Jahr.


Medienbericht 15.05.2024

  • Medienerwähnungen 

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